Kapitel 78

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Ein Wirbel aus Gedanken drückte sie nieder. Anna schnappte nach Luft, doch sie stürmten auf sie ein, erzwangen ihre Aufmerksamkeit und wurden, kaum dass sie sie bemerkte, schon weiter geschoben, ersetzt durch den nächsten Gedanken, das nächste Bild. Hell und dunkel, bunt und farblos, laut und leise, alles geschah gleichzeitig und nach wenigen Augenblicken schwirrte ihr der Kopf.

Irgendetwas in ihr erinnerte sich daran, wie sie hierher geraten war. Die Seele des Windlings – ihre Seele – sie hatte sie sich zurückgeholt. Und nun wurde sie davon überschwemmt. Anna bekam keine Luft mehr. Und mit einem Mal war da wieder Erde um sie herum und ihr Albtraum wurde für einen Moment zur Realität. Es war zu eng, zu voll, zu viel...

Mit einem Schrei sprengte sie ihr Gefängnis. Sie schob alles von sich, warf all die Bilder hinaus in den Raum, fort, weit weg von dem einen Gedanken, der sie bei Verstand hielt: Es ist meine Seele, sie gehört zu mir, sie beherrscht mich nicht – ich beherrsche sie!

Anna schloss die Augen und holte tief Luft.
Als sie sie wieder öffnete, lächelte sie der Windling scheu an. Der Sturm tobte nun in der Ferne und um sie herum entstand eine fantastische Welt aus Farben.

„Wo sind wir?", fragte Anna verwundert.

„In deiner Seele", antwortete der Windling wie selbstverständlich, sah sich aber ebenfalls mit großen Augen um.

„Sieht so die Welt des Windes aus?", fragte sie weiter.

Der Windling schüttelte den Kopf.

„Nein, das hier... ist anders", bemerkte er abwesend. Anna musterte ihn. All ihre Erinnerungen an dieses Gesicht waren von Schmerz geprägt.

„Es tut mir leid, dass ich dich nicht retten konnte", sagte sie leise. Der Blick des Windlings glitt zu ihr und Anna fühlte sich unangenehm durchschaut.

„Ich wollte nicht gerettet werden, Serafin", antwortete er nur.

„Aber dein Volk schon. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr es mich bedrückt, sie verloren zu haben. Ich habe versagt", versuchte sie es erneut.

Der Windling sah sie ernst an.

Wir haben versagt, Serafin", sagte er. „Lorch, Lia, ich und dieser unsägliche Mensch... Wir haben versagt. Es war deine Seele, die wir in uns trugen und wir haben noch nicht einmal versucht sie zu verstehen. Sie dich um: Das ist es, was dieses Seelenstück beinhaltet? Es ist wunderschön. Doch die Welt des Windes ist ein einziges Chaos. Wahrscheinlich bin daran ich schuld. Oder die Tatsache, dass mir die anderen Teile gefehlt haben? Wer weiß das schon?", hauchte er. Seine Stimme im Wind war so weich, so vertraut. Anna blinzelte die Tränen fort und tat, wie geheißen: Sie sah sich um. Und nicht nur das, sie fühlte in sich hinein.

„Was siehst du?", fragte der Windling nach einiger Zeit in die Stille. Anna hob den Blick und lächelte. Und um sie herum begannen sich die Farben zu vertiefen. Langsam schälte sich eine Landschaft heraus. Sie standen mitten in einem sonnendurchfluteten Wald. Über ihnen zwitscherten die Vögel, irgendwo in der Ferne plätscherte ein Bach.

Der Windling sah sich mit großen Augen um.

„Im Wald habe ich mich schon immer am wohlsten gefühlt", sagte Anna und der Windling nickte, als wäre das die Erklärung, auf die er gewartet hatte.

„Dieser Wald entspringt deiner Fantasie, nicht wahr?", fragte er und lächelte über den kleinen Piepmatz, der sich auf seiner Schulter niederließ und lautstark anfing zu zwitschern.

„Meiner Erinnerung, zum Teil. Aber auch meiner Fantasie. Es ist der Wald, so wie ich ihn am liebsten habe."

„Fantasie, Träume, Erinnerung...", flüsterte er und Annas Lächeln wurde breiter. Um sie herum wurden die Farben zur Bestätigung heller. Vor ihnen öffnete sich eine Lichtung. Eine Schar Windlinge tanzte darauf.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt