Kapitel 99

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Der Tod hatte ihn fest im Griff. Seit Tagen schon driftete er immer weiter in die Dunkelheit. Mit jedem Herzschlag verlor er mehr Blut, das sich auf dem Boden unter ihm ausbreitete. Sie hatten eine Übermacht gegen sich gehabt. Immer weiter zurückgedrängt von den Mauern, hinein ins Schloss, bis sie sich schließlich im Thronsaal verbarrikadierten. Hunderte hatten ihr Leben gelassen. Howard roch ihr Blut, hörte ihre Schreie wie ein nie endendes Mantra in seinen Ohren. Selbst jetzt noch, Tage später, während er um jeden einzelnen Atemzug kämpfte, ließen sie ihn nicht ruhen. Das Bild der Verwüstung hatte sich hinter seinen Lidern eingebrannt. Er würde sie mit sich nehmen, wenn er ging, die Bilder, die Schreie, die Namen all jener, die mit ihm gefallen waren. Die Erinnerungen zogen durch seinen sterbenden Geist:

Sein Bein lahmte, er spürte es kaum noch. In seiner Seite steckte ein Pfeil, den er mangels Alternativen nur mit der Klinge abgeschlagen hatte, damit der Schaft ihn nicht am Kämpfen hinderte. Lanis und seine Krieger wirbelten herum, als die Türen hinter ihnen ins Schloss fielen.

„Das wird sie nicht lange aufhalten", sagte er stockend. Howard konnte den Schmerz in seiner Stimme hören. Auch Lanis war verwundet. Kaum einer von ihnen war noch unversehrt. Davon abgesehen zehrte der Kampf an ihren Kräften, mehr als Howard es je für möglich gehalten hätte. Warum war er so müde? So schrecklich erschöpft? Als würde ihm die Luft, die er atmete, das Leben aussaugen, statt ihm Kraft zu verleihen. Er sah den Mann an, der das Gesicht seines Königs trug und konnte sich einer gewissen Erleichterung nicht verwehren. Was auch passierte – und er zweifelte nicht daran, dass es bald passieren würde – König Taos war weit fort von hier. In Sicherheit. Genau wie seine Kameraden. Alle außer Lane, dessen Schicksal nicht mehr in seiner Hand lag. Nein, Howard wusste, hier in diesem Thronsaal würde er sein Leben lassen. Es erschien ihm gar nicht so falsch, hatte er doch geschworen, den König zu schützen. Wo sollte er sterben, wenn nicht zu Füßen seines Thrones?

Ein Krachen riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte keine Zeit mehr sich umzudrehen, da wurde er von dem Türflügel erschlagen, der aus den Angeln gebrochen war und ihn unter sich begrub.

Als er das Bewusstsein zurückerlangte, bot sich ihm ein Bild des Grauens. Überall lagen die Krieger am Boden, verwundet oder tot, das Blut kroch über den hellen Marmor.

„Du wagst es, mich zu täuschen?", gellte eine schrille Stimme in seinen Ohren. Er suchte nach ihrem Ursprung und entdeckte den großen blonden Mann, der Lanis an der Kehle gepackt in die Luft hielt. Sein Gesicht verzog sich, seine Lungen rangen verzweifelt nach Luft, etwas ging vor sich, das Howards Augen nicht erfassen konnten. Dann veränderten sich die Züge des Kriegermeisters. Des Königs Gesicht verschwand und Lanis' wahre Züge kamen zum Vorschein. Er erschlaffte im Griff des Mannes, der ihn wütend von sich schleuderte. Lanis schlitterte über den Boden, durch Scherben und fallengelassene Klingen und schlug dann dumpf gegen die Stufen des Throns. Reglos blieb er liegen. Howards Wahrnehmung verschwamm. Schritte kamen und gingen, Stimmen, Schreie, Stille, wieder Schreie, durchdringend, voller Qual. Sein eigener Geist stimmte mit ein in die Klage. Sein Blick wurde dunkler...


Anna stolperte blind über die Trümmer. Sie glühte siedend heiß, die Seelen in ihr sprengten jede Barriere, die sie zu errichten versuchte, sprengten ihren Geist, ja sogar ihren Körper. Doch die Fetzen, in die es sie zerreißen wollte, fügten sich noch im selben Moment wieder ein, hielten sie ganz, erschufen sie mit jedem Atemzug neu. Das Licht, das ihr entströmte, ließ die Sterbenden um sie herum zucken, ließ sie erneut Atem holen. Wie Geister rappelten sie sich auf, tasteten verwirrt nach nicht mehr vorhandenen Wunden und dann nach ihren Waffen. Anna nahm sie nicht wahr. Sie ging einfach weiter.


Arics Fuß stieß gegen Widerstand und er hielt inne. Erschrocken starrte er auf den Schemen, der da vor ihm im Gras lag. Das Ziehen in seiner Brust hatte aufgehört – denn er hatte sein Ziel erreicht. Mit zitternden Händen beugte er sich hinab und strich sich selbst die Haare aus dem schlafenden Gesicht. Denn das da vor ihm am Boden war er selbst, seine Seele. Aric achtete nicht auf die Tränen, die ihm über die Wangen liefen – ihm und seiner Seele. Sie weinte mit ihm. Doch er sah nur die glatten Züge, den friedlichen Gesichtsausdruck. Sein verschwommener Blick glitt an dem Körper entlang und erkannte nur unversehrte Haut. Seine Stirn sank herab und legte sich auf die starke Brust unter ihm. Er benetzte sie mit seinen Tränen – Tränen der Erleichterung, der Überraschung, Tränen der Hoffnung. Und während er über seiner Seele gebeugt weinte, griff das Licht nach ihm. Langsam löste er sich auf, seine Konturen verschwammen, zogen sich zusammen zu einem grellen leuchtenden Funken, der sich auf der tränennassen Brust seiner Seele niederließ – und mit ihr verschmolz.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt