Kapitel 30

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In den kältesten Stunden der Nacht hatte Aric Schutz vor dem Wetter gesucht, um ein bisschen zu ruhen. Doch Schlaf fand er nicht. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, hörte er Efraims Stimme: Was, wenn der Serafin wieder zu einer schwarzen Königin wird?

Die Worte trieben ihm den Schweiß in die Stirn. Denn er hatte Taos angelogen. Es gab einen Grund für den Serafin, damals wie heute, dieser Welt den Rücken zu kehren. Es war ein und derselbe Grund. Und wenn Efraim Recht hatte mit den Wetterphänomenen... die Panik umklammerte sein Herz und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er hatte es nicht mehr ausgehalten – ihr Schweigen. Es konnte nicht viele Gründe dafür geben, aber blinder Zorn, Wut oder Trauer waren durchaus denkbar. Wenn sie nicht klar denken konnte, war es möglich, dass sie alle Verbindungen kappte. Deshalb musste er Efraims Bedenken auch ernst nehmen. Der einzige weitere Grund für ihr Verhalten, der ihm einfiel, war so furchterregend, dass er ihn sofort wieder vehement von sich schob. Er würde sich damit befassen, wenn er musste. Aber noch gab es Hoffnung. Von Unruhe getrieben nahm er die Decke von den Schultern, warf sie Boran über den Rücken und ritt tiefer in die Nacht.

Er brauchte Gewissheit.

Im Morgengrauen erreichte er schließlich die ersten Ausläufer der Berge. Nort schoss vom Himmel und ließ sich auf seinem Arm nieder. Aric streichelte zärtlich über das Gefieder.

„Du würdest es doch wissen, nicht wahr? Wenn sie in Gefahr wäre, würdest du es mir sagen", sprach er endlich aus, was ihm das Herz zerfraß. Im hellen Tageslicht fiel es ihm leichter sich dieser Vermutung zu stellen. Leichter als letzte Nacht, als ihn seine Angst fast um den Verstand gebracht hatte. Nort fuhr mit dem Schnabel zwischen seine Finger und sah ihn aus seinen klugen Augen heraus an.
Aric seufzte.

„Du bist genauso ratlos wie ich, hab ich Recht? Das ist nicht gut. Überhaupt nicht gut."

Wieder trieb er Boran an, bis sie beinahe über die Erde flogen. Lange würde das Tier dieses Tempo nicht mehr mitmachen, doch Aric erkannte schon die ersten Merkmale. Saronns Reich war nicht mehr weit.

Er war erst einmal hier gewesen, und damals nach Gefangenschaft und Folter vor Erschöpfung kaum ansprechbar. Doch er erinnerte sich an den Übergang. Es war als trete man durch einen Vorhang. Zuerst war da nur offene Ebene und ein bewaldeter Hügel, dann verschwamm für einen Moment die Sicht und plötzlich ragten Felsen aus dem Wald, auf denen eine Burg thronte, die es an Größe und Pracht mit Abenos Schloss aufnehmen konnte. Doch nur wem der Zutritt gestattet wurde, trat auch durch den Schleier. Alle anderen ritten einfach daran vorbei, ohne irgendetwas zu sehen. Aric wusste nicht, wie der Feuermagier Saronn diesen Zauber wirkte, aber er wusste, wie sicher und unaufspürbar sein Reich dadurch war. Niemand betrat es jemals ohne Erlaubnis.

Aric umrundete die letzten Ausläufer der Berge und erreichte die Ebene. Die Sonne stieg bereits höher am Himmel und... die Sonne schien! Aric stutzte und sah zurück auf die schneebedeckten Berge und den wolkenverhangenen Himmel hinter sich, dann wandte er den Blick zum Horizont vor sich, wo sattes Grün die weichen Hügel überzog. Es schien, als wäre er in einer anderen Welt. Einen Moment überlegte er, ob er bereits die Schutzzauber durchritten hatte, ohne es zu merken, doch dann sah er es. Die Burg – oder das, was noch davon übrig war. Aric stockte der Atem, als er das Ausmaß der Katastrophe in sich aufnahm. Die prächtige Festung lag in Trümmern, zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Über den zerschlagenen Bäumen ringsherum stieg Rauch auf. Aric stieß einen Schrei aus und trieb Boran noch einmal an. Sein Blut rauschte in seinen Ohren, die Angst schnürte ihm die Luft ab, als er endlich die Bäume erreichte und in den Wald eintauchte.

Wenig später kam er auf Boran nicht mehr weiter. Trümmer versperrten ihm den Weg. Aric stieg ab und streichelte dem Hengst beruhigend über die schäumenden Nüstern.
„Warte hier auf mich. Ruh dich aus", redete er ihm gut zu, zog sein Schwert und begann zu klettern, während er sich ununterbrochen Selbstvorwürfe machte, so lange gezögert zu haben. Er hätte sofort losreiten sollen, als die Elemente aus dem Gleichgewicht geraten waren. Doch Anna und er hatten eine Abmachung: Seine Aufgabe war Taos, komme was wolle. Er hatte ihr versprochen ihn zu schützen. Denn ihn zu verlieren – es hätte sie wahrscheinlich in eine ähnliche Situation befördert, in der sie sich jetzt befanden.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt