Kapitel 84

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Anna schwamm in einem Meer aus Schmerz. Die Macht, die sie umgab, war wie eine Droge, je mehr sie davon konsumierte, desto mehr wollte sie – ja brauchte sie. Doch gleichzeitig spürte sie, wie diese Macht ihr Inneres zerriss, wie es sie verbrannte und Körper und Geist an den Rand der Vernichtung drängte. Sie wusste, sie brauchte diese Macht zum Atmen, doch jeder Atemzug würde sie dem Tod ein wenig näherbringen. Diese Macht war ein Teil von ihr, ein Teil der Welt, ein Teil des Serafin. Ohne sie war sie unvollständig, ein krankes vor sich hinvegetierendes etwas. Doch ihr Körper war schwach, über ein Jahrtausend war er immer schwächer geworden, und was ihn eigentlich stärken sollte, würde ihn nun umbringen.

Das Dröhnen in ihrem Kopf wurde unerträglich, Schmerzen durchzuckten sie wie Blitze, ihre Haut brannte und Anna schrie.

Raash hatte es gewusst, hatte ihre Mutter in den Tod getrieben, um ihr eine zweite Seele zu schenken – um ihr eine Chance auf Überleben zu geben... Doch Raash hatte sich geirrt. Nichts konnte die Macht kontrollieren, die sie durchströmte – die wahre Macht des Serafin war zu viel für die zerstörte sterbende Welt, in die sie jetzt brandete.

Anna schwamm in dem See aus Macht, trank ihn wie eine Verdurstende, die weiß, dass ihr Wasser vergiftet wurde, aber nicht davon ablassen kann. Und das Gift kroch durch ihre Adern, fraß sich durch ihr Innerstes und hinterließ eine Spur der Zerstörung. Es gab kein Entrinnen...


Taos sah zu, wie Oliver Anna den Schweiß von der Stirn tupfte. Der Heiler sah kaum besser aus als die junge Frau, die er pflegte. Sein Gesicht war vor Sorge verzerrt, seine Haut blass und feucht. Er atmete schwer und schien sich nur durch puren Willen aufrecht zu halten. Taos wusste nicht, ob er ihn tadeln sollte, oder dem Mann aus Dankbarkeit die Füße küssen. Seit gestern war der Magier Anna nicht mehr von der Seite gewichen. Erst in den späten Abendstunden hatten ihre schrillen Schreie einem stilleren Kampf Platz gemacht. Taos seufzte und blinzelte die Tränen fort, die ihm entwischen wollten. Seine Ohren schmerzten und sein Herz blutete, doch er würde sie nicht allein lassen. Niemals!

Aric hatte vor Stunden das Zimmer verlassen, seine so mühsam beherrschte Maske zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Es hatte Taos einen innerlichen Schlag verpasst die Verzweiflung im Gesicht des Kriegers zu sehen. Jeder einzelne von Annas Schreien hatte seinen Hauptmann zusammenzucken lassen, jedes Mal war er aufgesprungen, hatte Annas Hände gepackt, die ziellos um sich schlugen und versucht zu ihr durchzudringen. Doch vergebens. Anna war wie von Sinnen. Und ihre Schmerzen spiegelten sich in Arics Zügen. Taos konnte ihn nur zu gut verstehen.

Eine Zeit lang hatte er draußen das Aufeinandertreffen von Klingen vernommen. Wer von seinen Gardisten herhalten musste, damit Aric sich abreagieren konnte, wollte er gar nicht so genau wissen. Doch auch die Klingen waren verstummt. Taos wusste nicht, wohin Aric gegangen war, doch er hoffte inständig, dass der Krieger ein wenig Schlaf gefunden hatte.

Hinter ihm öffnete sich leise die Tür und als er sich umdrehte sah er Amon in das Zimmer treten.

„Wie geht es ihr?", fragte der junge Bürgermeister und Taos wandte seinen Blick seufzend zurück auf das Krankenlager.

„Sie ist stiller geworden, aber ansonsten hat sich nichts verändert. Oliver sagt, es ist ein Wunder, dass die Welt noch nicht ins Chaos gestürzt ist. Trotz ihres Zustandes scheint sie irgendwie das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Keiner von uns kann sich erklären, wie."

Amon nickte und ließ sich neben Taos nieder.

„Ich war wütend", begann er nach einer Weile. „Wirklich stinksauer, dass sie hier auftauchte, als wären die letzten acht Jahre nicht gewesen, als hätten wir uns letzte Woche zuletzt gesehen. Sie hat mich einfach hängenlassen, damals nach der Schlacht um Zenon. Uns alle. Niemand wusste, was aus ihr geworden ist, manchmal habe ich mich ehrlich gefragt, ob sie überhaupt noch lebt... Und dann kommt sie hierher, lächelnd, mit einem Kind im Schlepptau...Versteh mich nicht falsch, ich liebe sie! Aber ich bin trotzdem wütend. Wütend und enttäuscht."

Er schüttelte müde den Kopf. Unfähig seine Gefühle richtig in Worte zu fassen. Doch Taos verstand ihn nur zu gut. Schließlich ging es ihm ähnlich.

„Ich weiß, was du meinst. Ich glaube, der Einzige, zu dem sie wirklich Kontakt gehalten hat, ist Aric."

„Naja, er ist schließlich Auroras Vater, nicht wahr?", versuchte Amon zu erklären. Taos zucke nur mit den Schultern. Keiner von ihnen konnte Annas Beweggründe wirklich nachvollziehen.

Eine Weile sahen sie schweigend zu, wie Oliver Anna umschwirrte, dann holte Amon tief Luft.

„Meine Truppen werden morgen Mittag einsatzbereit sein", sagte er in die Stille.

Taos richtete sich auf. Seine Dankbarkeit war grenzenlos, doch sein Blick lag voller Sorge auf Anna.

„Ohne sie werden wir keine Chance haben. Deine Männer in eine aussichtslose Schlacht zu schicken, kann ich nicht verantworten", sagte er beherrscht, obwohl ihm dabei das Herz brach. Seine Stadt, sein Volk, seine Männer... Sie alle waren dem Herrn des Nichts auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wie er es auch drehte und wendete, ohne Anna sah er keine Chance, sie zu retten.

„Wir finden einen Weg", sagte Amon fest.

Taos erwiderte nichts. Er hatte keine Kraft mehr dazu.

Nach einer Weile erhob sich der junge Mann und verließ leise den Raum. Taos starrte stumm in die Leere.

Amon trat in den Flur und nickte den Gardisten zu, die dort Wache hielten. Ihre Mienen waren grimmig, die Schatten unter den Augen tief, aber kein Ton kam über ihre Lippen, die Hände wachsam auf den Griffen ihrer Waffen. Aric hatte sie verdammt gut erzogen, dachte Amon bei sich, während er hinaus in den Burghof trat und tief durchatmete. In den Quartieren brannte Licht und Amon sah die Silhouetten der restlichen Gardisten, die dort am Kamin saßen und sich leise unterhielten. Auch oben im Turm waren die Gemächer der Herzogin noch hell erleuchtet. In dieser Nacht schien wohl niemand Schlaf zu finden. Amon seufzte und beschloss klüger zu sein und sich auf den Weg nach Hause zu machen, als eine Gestalt vor ihm aus den Schatten trat.


Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt