Kapitel 14

15 5 0
                                    

„Hier, die müssten passen", sagte Eric und warf ihm zu der Hose und dem Hemd noch ein paar gebrauchte Stiefel zu. Sam schlüpfte hinein und unterdrückte einen seligen Seufzer. Noch nie hatte er so gutes Schuhwerk besessen. Eric musterte ihn prüfend.

„Das reicht für den Anfang. Solange du noch nicht im Dienst bist, brauchst du keine komplette Uniform. Ich werde den Schneider bitten, dir bis dahin eine anzupassen. Nimm deine Sachen."
Sam nahm das Bündel schmutziger Kleider und folgte Eric über den Kasernenhof. Mit großen Augen beobachtete er Efraim und Ferdale, die dort die Klingen kreuzten. Eric folgte seinem Blick.
„Nicht so faul, Ferdale! Nimm den Arm hoch!", rief er hinüber.
„Kümmere dich um deinen eigenen Kram!", kam es von Ferdale zurück, ohne dass er den Kampf unterbrochen hätte. Doch Sam sah, wie sein Arm leicht die Position veränderte und Efraim plötzlich schwer zu tun hatte ihn abzuwehren.

„Es ist relativ simpel", begann Eric an seiner Seite zu erklären. „Zwei Mal vier Stunden Wachdienst plus zwei Stunden Training, der Rest der Zeit steht dir zur freien Verfügung. Es sei denn der Hauptmann hat andere Befehle für dich. Zu Beginn wirst du nur einen Wachdienst schieben und den Rest der Zeit deinem Training widmen. Deine Freizeit wirst du vermutlich mit Schlafen verbringen. In jeder Minute, die du dafür entbehren kannst. Im Gegensatz zu den meisten von uns fängst du absolut bei Null an, das heißt, du wirst dich ordentlich ranhalten müssen. Mach dir keine Illusionen: Du hast einen harten Weg vor dir, bis du das Zeichen des Raben auf deiner Brust tragen darfst – falls du es soweit schaffst. Ab jetzt gelten für dich folgende Regeln: Der Befehl des Hauptmanns ist Gesetz. Komm ihm nicht quer, verärgere ihn nicht, wenn dir dein Leben lieb ist und mach nie, niemals eine abwertende Bemerkung über den Raben. Das ist mein Ernst. Der Hauptmann verträgt Kritik zu einem gewissen Grad, wenn sie angebracht ist, aber auf den Vogel lässt er nichts kommen. Er ist heilig. Verstanden?"
Sam nickte, obwohl er es nicht wirklich verstand.
„Das Einzige, was einen Befehl des Hauptmanns außer Kraft setzt, ist der Befehl des Königs. Er steht immer und zu jeder Zeit an erster Stelle. Unsere Aufgabe ist es, sein Leben zu schützen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, an jedem Ort. Und glaub mir ein König fragt nicht, wohin er gehen kann, damit seine Verteidigung aufrechterhalten werden kann. Er geht einfach wohin auch immer er möchte und wir sorgen dafür, dass er sicher ist. Nicht so sicher wie möglich, sondern hundertprozentig sicher. Wir behalten seine Feinde im Auge und sorgen dafür, dass sie ihm gar nicht erst zu nahe kommen können. Und sollte uns je einer durch die Lappen gehen, dann verteidigen wir seine Majestät wenn nötig mit unserem Leben. Das ist keine Kleinigkeit, Samuel, also mach dir das klar und vergiss es nie wieder: Wir sind das letzte Bollwerk. Bevor der König fällt, fällt seine Garde. Sam schluckte. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie der Hauptmann ihn gefragt hatte, ob er bereit wäre für den König zu sterben.
„Die ganze Sache steht und fällt mit gegenseitigem Vertrauen. Seine Majestät vertraut dem Hauptmann sein Leben an, der Hauptmann vertraut unserem Können und unserer Loyalität und wir vertrauen einander. Solange du noch keinen Eid abgelegt hast wirst du nicht der persönlichen Wache seiner Majestät zugeteilt. Vorher lässt der Hauptmann dich nicht in seine Nähe. Trotzdem wirst du das ein oder andere erfahren, was nicht für deine Ohren bestimmt ist. Seine Majestät erwartet von dir absolute Diskretion. Seine Geheimnisse sind deine Geheimnisse. Am besten du vergisst alles wieder, sobald du es gehört hast. Wenn du etwas siehst oder hörst, was den König gefährden könnte, berichte es unverzüglich dem Hauptmann. Das meine ich ernst. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Er will immer und überall auf dem Laufenden bleiben. Nur so kann er den König effektiv beschützen. Soweit verstanden?"
Sam nickte, seine Gedanken rasten, während er versuchte, all das Gehörte abzuspeichern.

„Noch Fragen?", erkundigte sich Eric, als hätte er ihm lediglich den Weg erklärt.
Nur eine, dachte Sam, dessen Kopf bereits schmerzte von den vielen Informationen: Wer beschützt den König vor dem Hauptmann?
Eric blieb abrupt stehen und starrte ihn an.
„Heilige Scheiße!", stöhnte er und Sams Atem stockte. Er hatte wieder laut gedacht. Ängstlich sah er auf die Spitzen seiner neuen Stiefel und harrte auf das Urteil, dem er nicht entgehen konnte. Doch Eric überraschte ihn: Er fing an zu lachen. Verwundert sah Sam auf. Eric seufzte, schüttelte den Kopf, dann lachte er wieder.
„Langsam verstehe ich, warum er dich rekrutiert hat", sagte er, legte ihm eine Hand auf die Schulter und schob ihn weiter.
„Hör zu. Wir alle sind früher oder später an den Punkt gelangt, an dem du gerade bist. Allerdings nicht am ersten Tag." Er lachte wieder. „Wir alle haben dazu denselben Rat erhalten, den ich dir jetzt gebe: Nichts ist wichtiger, als dass du dich mit dieser Frage auseinandersetzt. Du musst eine Lösung dafür finden, sonst kannst du diesen Job nicht machen. Nicht solange der Hauptmann dir die Befehle gibt. Geh mit deinen Zweifeln zu Finja. Er wird dir helfen. Und scheu dich nicht davor, sie auszusprechen. Verstanden?"
Sam nickte und fragte sich insgeheim, ob die Gardisten alle ihre Zweifel überwunden hatten, oder ob sie sie nur gut verbargen.

„Das hier ist dein Zimmer", unterbrach Eric seine Gedanken und blieb vor einer der vielen Türen in der Kaserne stehen. „Du kannst deine Sachen drinnen ablegen. Wenn dir irgendetwas fehlt, oder etwas kaputt ist, geh zum Quartiermeister. Er kümmert sich darum."
Sam starrte auf die Tür. Sein Zimmer.
„Worauf wartest du?", fragte Eric irritiert und Sam streckte wie in Trance die Hand nach dem Riegel aus und trat ein. Es war ein schmaler Raum, etwa drei auf vier Schritt groß. Ein Bett, ein kleiner Tisch, ein Stuhl und ein Schrank standen darin und auf dem Steinboden lag ein ausgetretener Teppich. Die Möbel waren schlicht, aber robust. Auf dem Bett waren eine zusammengerollte Wolldecke, ein dünnes Leinenlaken und ein Kissen drapiert, auf dem Tisch standen eine Waschschüssel, ein Wasserkrug und ein hölzerner Becher. Hinter dem Bett ließ ein kleines Fenster etwa auf Kopfhöhe das warme Morgenlicht herein.
„Es ist nicht viel, aber wahrscheinlich komfortabler als die Schlafbank in der Küche", bemerkte Eric, der hinter ihm eingetreten war. Sam schluckte. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er einen Ort nur für sich allen gehabt. Zuhause hatte er sich ein Zimmer, ja sogar ein Bett mit seinem Cousin teilen müssen, die Küche bot nun wirklich keine Privatsphäre und das hier... es kam Sam vor wie ein Palast.
„Die Bäder sind den Flur runter links. Und keine Sorge, Effi benutzt das Bad der Mägde im Dienstbotentrakt, seit sie einmal über den splitterfasernackten Ferdale gestolpert ist und die Beiden sich zusammen in der Seife gewälzt haben. Es war ein herrlicher Anblick!" Er kicherte. „Fertig?"
Sam legte hastig sein Bündel auf dem Stuhl ab und nickte.
„Nun denn, zurück zum Tagesgeschäft. Bevor du lernst eine Waffe zu führen, zeige ich dir, wie du sie pflegst, wie du sie säuberst, schärfst und einsatzbereit hältst. Du wirst jeden Tag ein paar Stunden in der Waffenkammer verbringen und dich mit ihrem Umgang vertraut machen und dem Waffenmeister zur Hand gehen. Es gibt auch einige Bücher in der Bibliothek über Waffenkunde, die du dir zu Gemüte führen kannst. Wenn ich mir überlege, dass du wahrscheinlich außer einem Küchenmesser, noch keine Klinge in der Hand hattest, ist das wahrscheinlich keine schlechte Idee. Bernard zeigt dir, wo du sie finden kannst."
Sams Herz begann schneller zu schlagen, während sie erneut an Efraim und Ferdale vorbeimarschierten.

„Ich kann nicht lesen", gestand er und hatte diesen Umstand noch nie mehr bedauert als in diesem Moment.
Eric warf ihm einen abschätzenden Blick zu.
„Dann... mach dich auf noch längere Tage gefasst. Der Hauptmann wird darauf bestehen, dass du es lernst. Ich werde Efraim bitten, dir die Grundlagen beizubringen."
Sam blieb stehen. Das war mehr als er ertragen konnte. Er starrte Eric ungläubig an.
„Tut mir leid, Junge, aber du musst zumindest in der Lage sein, Nachrichten zu lesen und zu verfassen."
Sam schloss die Augen und atmete tief durch, um sich zu sammeln. Dann breitete sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er sah Eric an und sein Lächeln wurde noch breiter.
„Das hier ist kein Traum, nicht wahr?", fragte er, obwohl er eigentlich keine Antwort brauchte. Eric grinste.
„Nein, das ist es nicht, Sam."

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt