Kapitel 91

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Sam wusste, er durfte keine Vergleiche ziehen. Er war stark und ausdauernd von der Arbeit in der Küche und von den vielen Botengängen und dem Training, das der Hauptmann ihm hatte angedeihen lassen. Doch trotzdem zehrte der stundenlange Marsch an seinen Kräften. Wahrscheinlich lag das auch an der Wunde, die ihn immer noch unangenehm in die Schulter stach – und am Hunger. Gorjak hatte ihre Vorräte an jenem Abend am Strand an die anderen verteilt. Es hatte noch für ein Frühstück am nächsten Morgen gereicht, aber seither war der Rucksack leer. Er hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen und er spürte wie dieser Umstand nicht nur an seinen Kräften sondern auch an seinen Nerven zehrte.

Den anderen schien es ähnlich zu gehen. Effis Lächeln und ihre positive Ausstrahlung waren verblasst. Sie starrte stur auf den Weg vor sich, Ferdale ein stummer Begleiter an ihrer Seite. Aurora meckerte und weinte in abwechselnder Folge und die Silieren schwiegen. Sotie schien es von ihnen allen am schlimmsten zu treffen. Sam konnte nur vermuten, dass ihr Körper zum Schwimmen gebaut war und nicht für einen solch endlosen Marsch. Sie trug noch nicht einmal Schuhe. Ihre Füße waren schon vor Stunden ermüdet und ihre Schritte waren zu einem Humpeln geworden. Doch sie ertrug es stoisch und ohne Klagen.

Der Einzige, den das alles völlig kalt zu lassen schien, war Gorjak. Er marschierte wie eine Maschine, trug Aurora immer wieder auf seinen Schultern mit und zeigte weder Müdigkeit noch Erschöpfung. Sam bewunderte ihn dafür und in den langen Stunden dachte er darüber nach, woher diese Kraft und Ausdauer kamen. Wie das Leben des Kriegers aussah, dass ihm die Bedingungen überhaupt nicht zuzusetzen schienen. Er erinnerte sich an seine erste Unterhaltung mit dem Mann damals in Abeno.

„Habt ihr schon viel von der Welt gesehen?"
„Manchmal denke ich es ist sogar zu viel, was ich gesehen habe."

Um sich von den Schmerzen und der Erschöpfung abzulenken, schloss er zu dem Krieger auf und nahm seinen Mut zusammen.

„Ihr seid viel auf Reisen, nicht wahr?", fragte er schüchtern.

Der Krieger grinste, als wüsste er genau, weshalb Sam ihn das fragte.

„Es gehört zu den Aufgaben der Krieger, Augen und Ohren überall zu haben. Um die Veränderungen, die in der Welt vor sich gehen, zu erkennen und darauf reagieren zu können. Davon abgesehen war ich bis zu Taos' Herrschaft ein Geächteter. Es war überlebenswichtig immer in Bewegung zu bleiben", erklärte er mit einem Zwinkern. Sam schauderte.

„Man sagt, die Dienste eines Kriegers waren beinahe unerschwinglich, aber absolut zuverlässig. Egal, wie prekär das Problem", wagte er zu sagen. Gorjak nickte ernst.

„Auch das ist ein Grund, weshalb ich viel unterwegs war. Die Aufträge, die ich angenommen habe, führten mich immer wieder fort aus Abhan."

Sam dachte darüber nach. Seine ersten Tage zu Pferd durch das Land waren furchtbar gewesen. Alles war neu, unbekannt und machte ihm Angst. Auch jetzt noch. Obwohl er zugeben musste, dass er sich langsam daran gewöhnte. Das nagende Gefühl in seinem Innern wurde von Tag zu Tag etwas leichter. Gorjak schien seine Gedanken zu erraten.

„Es ist immer aufregend unterwegs zu sein. Aber je mehr man sieht, desto weniger unbekanntes gibt es. Du bist in Abeno zuhause, dort kennst du dich aus, jedes Hauseck ist dir vertraut. Ich dagegen bin überall zuhause. Am Ende unterscheiden sich die Städte nicht so sehr voneinander und die Wildnis ist überall die gleiche. Die Welt wird irgendwann vertraut, egal wohin man geht."

Sam versuchte sich das vorzustellen, scheiterte aber daran.

„Ich wette, meine Welt würde dich überraschen, Krieger", mischte sich Sotie mit einem Lächeln in ihr Gespräch ein. Gorjak grinste zurück.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt