Kapitel 73

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„Anna?", sofort war Aric bei ihr. Sein Lächeln vertrieb für einen Moment die Kälte aus Lorchs Erinnerung.

„Wie fühlst du dich?", fragte Aric und die Wärme in seiner Stimme ließ noch mehr Tränen fließen. Er wischte sie ihr zärtlich von den Wangen, seine Augen voller Sorge.

„Ich war das", schluchzte sie auf und der Schmerz raubte ihr beinahe die Sinne, als sie die volle Wahrheit endlich begriff.

„Sie wird die Welten zerstören, die Völker vernichten! Sie hat bereits damit begonnen. Wer glaubst du, hat die Windlinge auf dem Gewissen? Und sie wird auch vor euch nicht Haltmachen!"

„Ich war es! Oh, Götter...!"

„Anna?", fragte Aric erneut. „Wovon sprichst du?"

Anna konnte seinen Blick kaum ertragen. Sie spürte Taos und Anuba näherkommen, spürte, wie sich die Aufmerksamkeit im Lager auf sie richtete und schluckte angestrengt.

„Es tut mir leid", stieß sie aus und schloss die Augen, um ihre Blicke nicht ertragen zu müssen.

„Was ist los?", hörte sie Taos fragen, Auroras Kinderhände tasteten nach ihr, strichen ihr zärtlich übers Haar.

„Mama?", fragte auch sie und Anna stöhnte. Sie konnte ihre Liebe nicht ertragen, durfte es nicht. Sie hatte sie nicht verdient. Verzweifelt schob sie Aurora von sich, hörte ihr Weinen und Taos' tröstende Worte, der sie in die Arme nahm und festhielt.

„Bitte...", versuchte sie es wieder.

„Was brauchst du, Anna?", fragte Aric.

„Nicht...", flehte sie und wünschte sich nichts mehr als das Vergessen, dass sie bisher beschützt hatte. Die Wahrheit hämmerte auf sie ein, zerschlug die Blase, in der sie sich befunden hatte, unerbittlich, ohne Rücksicht.

„Der Serafin kann nicht morden! Das ist wider ihre Natur!"
„Oh sie kann, kleiner Erdling. Sie hat es ausreichend bewiesen."

Anna wurde übel, als die Erinnerungen aus den Bergen zurückkehrten, die Angst, der Schmerz – und der Herr des Nichts, der unter den Windlingen wütete. Die Seele des Serafin. Ihre Seele.
Anna drehte sich um und erbrach sich. Sie hörte Aric fluchen. Jemand richtete sie auf, doch Anna nahm es kaum wahr. Sie strich über die schneebedeckten Berge, über denen der Nebel hing, der Tod. Wieder kam ihr die Galle hoch. Sie hatte seit Wochen nicht gegessen. Ihr Magen war leer, doch sie würgte und würgte, die Übelkeit raubte ihr den Atem, der Schmerz ihren Verstand.
Um sie herum wurde es geschäftig.

„Tu etwas!", forderte Aric.

„Ich kann nicht hexen!", fuhr Anuba ihn an.

Und dann tauchte das Gesicht des Windlings vor ihr auf, wie er an Lucius' Bettkante stand und ihm seine Seele schenkte. Sie kannte das Gesicht. Von jenem schicksalhaften Tag in den Bergen – und aus Lorchs Erinnerung. Und da wurde ihr eine zweite Sache klar: Er hatte Lucius nicht seine eigene Seele gegeben, sondern das Seelenbruchstück des Serafins, das er in sich getragen hatte.

Anna schloss die Augen und sah, wie der Nebel sich verzog. Und plötzlich lag ihr Geist frei. Sie sah... sie sah unendlich weit. Zitternd holte sie Luft und hob ihre Lider. Sie blickte direkt in Anubas geschäftiges Gesicht, die ihr ein bitter schmeckendes Kraut in die Backentasche schob, spürte Arics starke Arme, die sie umfassten und aufrecht hielten.

Anna spuckte das Kraut aus und schob Arics Arme von sich. Er ließ sie sanft zu Boden gleiten, seine Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen. Anna schob die zitternden Hände unter sich und richtete sich langsam auf, dann zog sie die Beine nach. Sie schwankte gefährlich, als sie endlich stand, doch sie wehrte Arics helfende Hand ab. Tief sog sie Luft in ihre Lungen, sie war trocken und kalt. Sie mussten das Moor längst hinter sich gelassen haben. Anna blinzelte. Mehr war nicht nötig, um zu begreifen, wo sie war. Noch etwa einen Tagesritt entfernt von Zenon. Sie stieß die Luft wieder aus.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt