Kapitel 8

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„Wo bist du gewesen? Ist heute nicht dein freier Nachmittag?", rief Effi ihm von den Stallungen aus entgegen. Sie hatte die Jacke ihrer Uniform abgelegt und die Ärmel ihres Hemds über die Ellbogen geschoben. Ihre Augen leuchteten vergnügt, als sie ihn über den Rücken ihrer Stute Lola hinweg angrinste. Effi und Tiere war ein Thema für sich. Die Frau war ebenso vernarrt in ihr Pferd wie in den Raben des Hauptmanns. Nur für Männer schien sie nichts übrig zu haben. Eric grinste zurück, nahm sich einen zweiten Striegel und strich Lola über die braune Kruppe. Das Pferd schnaubte und schüttelte den Kopf, um die lästigen Fliegen zu vertreiben. Effi strich ihm beruhigend über die Nüstern und begann dann mit den Fingern die Mähne zu entwirren, wobei sie absichtlich über das Fell kratzte, um dem schwitzenden Pferd ein wenig den Juckreiz zu nehmen.
„Ich habe dem Hauptmann einen Gefallen getan", erklärte Eric bereitwillig und strich den Striegel über den kräftigen Hinterlauf.
„In der Stadt?"
„Jap."
„Worum gings?"
Eric richtete sich auf und sah sie über den Pferderücken hinweg an.
„Schon ok, geht nur den Hauptmann was an. Vergiss, dass ich gefragte habe", lenkte sie sofort ein und verdrehte theatralisch die Augen.
Eric zwinkerte ihr zu.
„Denkst du nach der Blamage von letzter Woche werden wir je wieder einen neuen Rekruten in unsere Reihen aufnehmen?", fragte sie, nachdem sie eine Weile schweigend vor sich hingearbeitet hatten. Eric zuckte nur die Schultern. Finja hatte erzählt, dass die Rekruten durchaus Durchhaltevermögen und Geschick bewiesen hatten. Doch sie alle wussten, dass das nicht reichte, um den Ansprüchen des Hauptmanns zu genügen. Lane und Efraim, die an jenem Vormittag Dienst beim König gehabt hatten, hatten behauptet, seine Majestät hätte wohl gesagt, das letzte Wort in dieser Sache sei noch nicht gesprochen. Der Hauptmann hatte nichts darauf erwidert. Aber das war nicht ungewöhnlich. Er äußerte nur selten seine Meinung.
„Der Schutz des Königs steht an erster Stelle. Ohne neue Rekruten kann er ihn auf Dauer nicht gewährleisten. Früher oder später wird er also jemand geeigneten auftreiben. Vergiss nicht, dass keiner von uns sich tatsächlich um einen Platz bei der Garde beworben hat. Der Hauptmann gräbt die Besten der Besten an den ungewöhnlichsten Orten aus."
Das brachte Effi zum Lachen. Kein Wunder. Sie selbst hatte der Hauptmann damals von einem fahrenden Zirkus weg rekrutiert, wo sie Schaukämpfe zum Besten gegeben hatte. Und das war bei Weitem nicht die verrückteste Geschichte, wenn es um die Herkunft der Raben ging.
„Du hast Recht. Er wird jemanden finden und uns wie immer überraschen."
Eric dachte an die ungewöhnliche Bitte des Hauptmannes den Küchenjungen Sam zu beschatten und konnte dem nur zustimmen. Doch der Hauptmann hatte mit seinem Urteil bisher nie fehl gelegen. Was immer er in dem Jungen sah, falls er überhaupt etwas in ihm sah, musste ihn zumindest aufmerksam gemacht haben.

Ein schwarzer Schatten senkte sich über ihren Köpfen herab und landete sanft auf dem Pfosten, an dem Lola angebunden war.
„Oh, hallo Nort", sagte Effi warm und lächelte den Raben an. Eric stutzte.
„Im Ernst? Du und der Vogel seit bereits beim Vornamen angekommen? Meinst du nicht ihr geht es ein wenig zu schnell an?", zog er sie auf und sie warf den Striegel nach ihm. Eric duckte sich geschickt darunter hinweg und lachte vergnügt.
„Du bist nur neidisch, weil er mich gut leiden kann."
„Nort ist das einzige männliche Wesen, dem du überhaupt deine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkst. Ich will nur sichergehen, dass er sie auch verdient."
„Ignorier ihn einfach, Nort. Er ist ein grober unsensibler Gardist, der es leider einfach nicht besser weiß", redete sie dem Raben gut zu und zauberte eine Handvoll Körner aus ihrer Hosentasche. Der Rabe pickte wählerisch darin herum, dann hob er ab und segelte auf ein Fenster im Turm zu.
„Du bestichst ihn mit Futter? Kein Wunder kann er dich gut leiden", neckte Eric sie und Effi streckte ihm völlig ungeniert die Zunge heraus. Ihr Blick folgte dem Vogel und Eric sah ebenfalls hinauf zu dem Fenster, aus dem just als der Rabe sich näherte ein in schwarzes Leder gewickelter Arm erschien, auf dem er sich niederließ. Arm und Rabe verschwanden im Innern und Effi seufzte verliebt.
„Woher weiß er wohl, wo er ihn finden kann?", fragte sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Es gab auch keine. Der Vogel war ein ungelüftetes Geheimnis, dass jedes Mal von Neuem für Gesprächsstoff in der Wachstube sorgte.
„Na los, du Tiernärrin. Gib Lola einen Kuss und zieh dich um. Wir gehen mit Efraim, Jack und Vornhardt was trinken. Jacks Wachdienst ist in ner halben Stunde um, dann geht's los.
Effis Gesicht leuchtete auf und Eric schüttelte lächelnd den Kopf.
„Das zieht immer", murmelte er amüsiert, während Effi die Striegel dem Stallburschen übergab und sich überschwänglich von ihrer Stute verabschiedete. Dann hakte sie sich bei Eric unter und zog ihn zu den Kasernen.
„Wohin gehen wir? Ins Armenius?", fragte sie voller Vorfreude.
„Das war der Plan, ja."

Als Sam die Straße zum Schloss hinaufschlenderte, kam ihm die Gruppe Gardisten direkt entgegen. Wären ihre Gesichter ihm nicht so vertraut gewesen, hätte er sie kaum wiedererkannt ohne ihre Waffen und Uniformen und den reservierten Gesichtsausdrücken. Die Männer und die Frau, die gerade durchs Tor traten, lachten und schubsten sich gegenseitig und ihr Gebaren hatten nichts mit dem gemeinsam, wie sie sich gaben, sobald sie eine Uniform trugen. Sam starrte sie an, bis einer der Männer seinem Blick begegnete. Er lächelte ihn freundlich an und Sam sah sofort in eine andere Richtung. Sein Herz hämmerte und er schob sich näher an die Hauswand zu seiner Linken, als die Gruppe ihn passierte. Dann hastete er eilig auf das Tor zu. Der Innenhof empfing ihn mit beruhigender Selbstverständlichkeit, ebenso wie Henna, die auf dem Brunnen saß und an ihren Haaren spielte. Als sie ihn sah, sprang sie auf und lief ihm strahlend entgegen.
„Wieso hat das so lange gedauert? Und wo zum Henker sind deine Schuhe?"
Sam sah auf seine nackten staubigen Füße und seufzte. Der Sattler hatte seinen Schuhen einen einzigen missbilligenden Blick zugeworfen und behauptet er könne nichts flicken, das gar nicht mehr vorhanden war. Sam konnte seinen Standpunkt durchaus verstehen. Seine Sohlen waren mittlerweile so dünn, dass sie wahrscheinlich reißen würde, sobald man versuchte sie mit Nägeln oder Faden wieder am Schuh zu befestigen, der selbst nicht in besserem Zustand war. Es hatte einiges an Überredung gekostet und die beiden Münzen, die Sam vor seinem Cousin gerettet hatte, dass der Sattler sich bereiterklärte es überhaupt zu versuchen. Doch seine Meinung war ihm ins Gesicht geschrieben gewesen.
„Deine Füße sind ohne Schuhe besser dran als mit diesen", hatte er kopfschüttelnd gesagt und war mit Sams Besitz in der Werkstatt verschwunden. Da Sam keinen Ersatz hatte, lief er nun barfuß und hoffte, dass der Sattler ein Wunder vollbringen würde.
Doch Henna wartete gar nicht auf eine Erklärung. Sie zog ihn am Arm hinter sich her über den Hof, durch die Stallungen hinauf auf die Mauer. Bei ihrem Lieblingsplatz oben an der Brüstung drehte sie sich um sah ihn erwartungsvoll an. Sam musste lächeln, als er die Vorfreude in ihren Augen sah. Sie war völlig aufgekratzt. Henna atmete tief durch, dann zog sie etwas aus ihrer Schürze und reichte es ihm. Sam starrte darauf, seine Finger zuckten, doch er wagte nicht es zu berühren.
„Nun nimm schon", forderte Henna ihn fröhlich auf und Sam sah sie an.
„Woher hast du das, Henna?", fragte er argwöhnisch. Hennas Grinsen wurde noch breiter. „Einer der Höflinge hat es im Speisesaal liegen lassen. Es lag auf der Bank. Ich habe es gefunden, als ich abgeräumt habe. Nun sieh es dir schon an!"
Sam griff zögernd nach dem ledernen glatten Buchrücken und strich mit dem Finger darüber. Henna schob es ihm zu und ließ los, sodass er gar nicht anders konnte, als das Buch zu packen und davor zu bewahren, dass es auf dem schmutzigen Boden landete. Er biss sich auf die Lippen und schlug es versuchsweise auf. Es war voller Buchstaben.
„Du musst es zurückgeben", flüsterte er aufgeregt, doch Henna zuckte nur mit den Schultern.
„Klar, aber vorher wirst du es dir ansehen. Der alte Bernard in der Bibliothek wird es erst in ein paar Tagen vermissen, wenn überhaupt, und der Höfling hat wahrscheinlich längst vergessen, dass er es lesen wollte."
Sam seufzte. Hennas Logik war bestechend. „Du weißt, dass ich nicht lesen kann, Henna", sagte er leise, ließ das Buch aber nicht los, blätterte sorgfältig eine Seite um und Henna summte zufrieden, als sein Blick daran hängen blieb. Dort war ein Bild. Es zeigte ein Schiff auf wogenden Wellen, Männer an Deck, die in den Seilen hingen, Vögel, die darüber kreisten. Sam hielt den Atem an.
„Ich dachte auch mehr an die Bilder", säuselte Henna. „Ich weiß doch wie verrückt du danach bist, die Welt zu sehen."
Sam nickte nur und hatte plötzlich einen dicken Klos im Hals.
„Danke, Henna", brachte er hervor und sah sie mit großen Augen an. Sie lächelte vergnügt, drückte ihm einen warmen Kuss auf die Wange und zog ihre Schürze glatt.
„Viel Spaß damit. Ich hab noch zu tun", war alles was sie sagte, bevor sie fröhlich davon wirbelte. Sam sah ihr einen Augenblick nach, dann glitt sein Blick zurück zu dem kostbaren Buch in seinen Händen. Er schob es unter sein Hemd und suchte sich einen ungestörten Ort im Garten, um es in Ruhe zu studieren.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt