Kapitel 95

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Aric fand keinen Schlaf. Er wusste, er sollte ruhen, wusste, dass er die Kraft brauchen würde, doch jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er seine verstümmelte Seele, wie sie auf ihn zukroch und schreckte auf. Übelkeit ließ ihn schwindelig werden, bis er es aufgab und sich erhob, um sich die Beine zu vertreten.

Er überließ es seinen Füßen, sich einen Weg zu bahnen und nach einer Weile fand er sich an einer glimmenden Feuerstelle wieder.

„Aric?", begrüßte Anuba ihn überrascht. Sie saß an einem Lager und ein Blick ins Gesicht des schlafenden Mannes neben ihr genügte, um zu wissen, dass es sein eigenes war. Auf der anderen Seite saß Oliver mit konzentrierter Miene, die Augen geschlossen. Bei Anubas Worten blinzelte er.

„Was geht hier vor?", fragte Aric und trat näher.

Anuba seufzte.

„Nur eine Idee...", murmelte Anuba und wandte den Blick ab. Aric sah auf den reglosen Körper hinunter und spürte ein unangenehmes Ziehen in der Brust, als Oliver seltsam ertappt die Hände von ihm zog.

„Was für eine Idee?", hakte er bedrohlich nach. Anuba kniff die Lippen zusammen, doch sie wich ihm nicht wieder aus.

„Oliver sagt, dein Körper verbraucht zu viel Energie. Er kann sie eine Zeit lang ausgleichen, mit Magie, aber nicht ewig. Selbst, wenn es uns gelingt deinen Körper darüber hinwegzutäuschen, dass er keinen Geist mehr besitzt, wirst du früher oder später schlicht und einfach verhungern, Aric."

Aric rollte mit den Augen. Er wollte nicht darüber nachdenken. Es war so oder so sinnlos. Doch Anuba sah ihn eindringlich an.

„Hast du jemals Winterschlaf gehalten, Aric?", fragte sie frei heraus und er zuckte zusammen. Dieses Wort...Winterschlaf. Erdlinge kamen über die warmen Jahreszeiten mit wenig bis gar keinem Schlaf und holten ihn dann durch einen Monate währenden Winterschlaf wieder rein. Wie die Bären, die in den Tiefen des Midwalds hausten. Aric hasste diese Bären und er hasste das Blut der Erdlinge, das in seinen Adern schlummerte, mit allem, was es mit sich brachte. Wut stieg ihm in die Kehle, doch Anuba wartete seine Antwort nicht ab.

„Du bist ein Erdling, du müsstest dazu in der Lage sein. Ich habe es selbst nie versucht, aber Mutter kann es und ich habe schon oft dabei über sie gewacht. Aric, wenn wir es schaffen deinen Körper in den Winterschlaf zu versetzen, fährt er alle Funktionen auf ein Minimum herab. Das würde deine Überlebenschancen auf Monate ausdehnen."

Ihre Logik war unbestreitbar, aber alles in ihm sträubte sich.

„Aric, rede mit mir. Hast du schon Nächte durchwacht? Hast du schon auf diese Gabe zurückgegriffen? Wenn ja, dann bist du umgekehrt auch in der Lage zu schlafen."

Aric schnaubte unwillig. Ja er hatte sie genutzt. Als er an Taos' Hof gekommen war. Er hatte Taos' Leben beschützt und mit Ferdales und Finjas Hilfe seinen Hof von Feinden gesäubert, ohne auch nur ein Auge zuzutun. Er hatte gewusst, dass es Konsequenzen haben würde, dass er den fehlenden Schlaf irgendwann wieder reinholen musste, doch er weigerte sich genauer darüber nachzudenken. Er hatte weder Zeit noch Nerven dafür, denn Taos' Leben hing von ihm ab.

Anuba schien ihm die Wahrheit anzusehen. Ihre Augen wurden größer.

„Wie lange?", fragte sie und er seufzte. Was machte es für einen Unterschied, wenn sie es wusste?

„Etwa ein Jahr", erwiderte er rau. Sie riss die Augen noch weiter auf. Selbst Oliver sah überrascht auf.

„Ohne Ausgleich?"

Er zuckte nur die Schultern. Er schlief nie viel. Bisher hatte er noch nie Probleme damit gehabt. Anuba schüttelte fassungslos den Kopf.

„Verdammt Aric, weißt du eigentlich, was du dir da angetan hast? Dein Körper braucht Erholung, ja, aber es ist der Geist, der am meisten unter dem Schlafmangel leidet! Kein Wunder hattest du der Seele des Serafin nichts entgegenzusetzen. Du warst bereits vorher am Ende deiner Kräfte. Wie konntest du nur so fahrlässig sein!"

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt