Anna tauchte aus Lorchs Erinnerungen auf, als das Pferd unter ihr scheute und sie beinahe abwarf. Blinzelnd versuchte sie sich zu orientieren. Der stützende Arm um ihre Hüfte war verschwunden. Sie saß allein auf dem Pferd. Anna richtete sich auf. Vor ihr stand Anuba knietief im Wasser, und führte die Stute am Zügel durch dichte Nebelschwaden. Doch etwas musste Henla erschreckt haben, denn sie war stehen geblieben und weigerte sich offenbar weiterzugehen. Anuba strich ihr beruhigend über die Nüstern, redete ihr zu und führte sie so Schritt um Schritt voran. Anna atmete tief durch. Die Luft war feucht, aber angenehm und für den Moment schienen sogar die Schmerzen etwas gedämpft.
„Wo sind wir?", fragte sie leise, um Henla nicht zu erschrecken. Anuba sah überrascht zu ihr auf.
„Du bist wach? Wie geht es dir?"
„Ich lebe noch. Dank dir, Anuba", erwiderte sie ernst.
Anuba winkte ab und warf einen Blick in die Nebelschwaden vor ihnen.
„Das hier ist das Gruven-Moor. Wir kommen hier nicht besonders schnell voran, aber es zu umgehen würde Tage dauern. Außerdem braucht Henla eine Pause und hier kann sie etwas Kraft tanken. Sollten unsere Verfolger uns hier hinein folgen, kommen sie auch nicht schneller voran. Reiten sie drum herum, könnten wir wahrscheinlich unseren Vorsprung ausbauen."
„Wie kann ich helfen?", fragte Anna, doch Anuba winkte wieder ab.
„Bleib bei Bewusstsein und fall mir nicht vom Pferd. Mit dem Rest komme ich klar."
„Kennst du einen Weg durch das Moor?"
„Nicht direkt, nein, aber ich kann einen finden."
„Wie?"
„Ich bin ein Erdling. Ich fühle, wo ich sicher auftreten kann."
Anna nickte, die Unterhaltung forderte bereits ihren Tribut, doch dann horchte sie auf.
„Du hast gesagt, du wärest Lorchs Enkelin", versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen.
„Das bin ich."
„Lorch gab mir...", sie schluckte etwas überfordert, doch Anuba schien diesbezüglich keine Hemmungen zu haben.
„... er gab dir sein Seelenbruchstück."
„Ja. Du weißt davon?"
„Er hat mir davon erzählt."
„Wie kommt es, dass du...", Anna fehlten die Worte. Die Eindrücke aus den Erinnerungen spielten Karussell mit ihrem Geist.
„...dass ich ihn verstehen kann, obwohl die Welt es vergessen hat?"
„Ja", erwiderte Anna nur.
Anuba lächelte sie an.
„Weil ich als seine Enkelin einen Funken dieser Seele in mir trage. Sie ist mein Erbe."
„Genau wie bei Aric", murmelte Anna nachdenklich und Anuba blieb abrupt stehen. Dann sah sie sie ungläubig an.
„Du weißt von Aric?"
Anna lächelte schief.
„Ich bin der Serafin", erinnerte sie die junge Frau, die sich aufgewühlt durch die Haare fuhr.
„Aric ist mein kleiner Bruder. Ich habe seit 20 Jahren nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß noch nicht einmal, ob er noch lebt...", sagte sie leise. Anna fragte sich, warum Lorch seiner Enkelin Arics Schicksal vorenthalten hatte. Doch sie ging nicht darauf ein.
„Er lebt", sagte sie nur und Anuba sah sie groß an. „Er dient unter dem König von Abhan. Als Hauptmann seiner Leibgarde."
Anuba schwieg. Sie streichelte Henla und zog sie dann weiter durch den tückischen Sumpf. Anna schloss die Augen und ließ Lorchs Erinnerungen weiter auf sich einprasseln...
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Die Raben des Königs
FantasiAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...