Aric griff nach dem Pfeil in Norts Krallen und steckte ihn in seinen Gürtel. Dann lehnte er sich vor und trieb sein Pferd in einen noch schnelleren Galopp. Der stattliche Hengst hatte lange keinen Auslauf mehr bekommen, war Aric doch durch sein Urteil an das Schloss gebunden. Nur wenn der König die Stadt verließ und seine Garde ihn begleitete, durfte Aric die Schlossmauern hinter sich lassen. Sein letzter Ritt war Monate her. Boran, sein Hengst, schien die ungewohnte Freiheit ähnlich zu genießen wie Aric selbst. Seine Hufe donnerten unerbittlich über den gefrorenen Boden und seine Nüstern blähten sich mit jedem Atemzug, stießen Wolken aus weißem Nebel aus, der sich mit dem fallenden Schnee vermischte und schließlich verschwand.
Aric schloss die Augen und ließ Wind und Kälte und das leise Stechen des Schnees auf seinem Gesicht auf sich wirken. Seine Flucht hatte einen zermürbenden Anlass, doch Aric konnte nicht umhin den Augenblick auszukosten. Boran flog unter ihm dahin, seine starken Muskeln ein Wechselspiel zwischen Arics Schenkeln. Er hatte sich nicht die Zeit genommen das Tier zu satteln, hatte lediglich eine Decke über seinen Widerrist geworfen, ihm die Zügel angelegt und war losgeritten. Mit dem Überraschungseffekt auf seiner Seite hatte er sich den Weg aus der Stadt bahnen können, ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen – und ohne jemanden zu verletzen. Nur um Finja machte er sich Sorgen. Der Pfeil in seinem Gürtel erinnerte ihn lebhaft daran, wie schwierig es gewesen war, Taos von dem Mann zu überzeugen. Er hatte nicht verstanden, weshalb Aric seine Haft in Ibna nicht hinter sich lassen wollte, weshalb er ausgerechnet den Mann an seiner Seite wissen wollte, der ihn ein Jahr lang in seiner Zelle gehalten hatte. Der jeden Tag um dieselbe Zeit vor der dunklen Tür Stellung bezogen hatte, ohne ein Wort des Grußes, ohne Mitgefühl, ohne Bedenken. Finja war einer der sechs Wächter gewesen, die nach seinem Urteil durch das ibnesische Kriegsgericht für ihn verantwortlich gewesen waren. Einer der einzigen Menschen, dessen Gesicht Aric in diesen langen Monaten überhaupt gesehen hatte. Nach einem Jahr und einem Tag Haft ohne Kontakt zur Außenwelt, war er in die Obhut des Königs von Abhan entlassen worden, dem er den Rest seines Lebens zu dienen hatte. Wie, lag einzig und allein im Ermessen des Königs. Doch Aric hatte den letzten Herrscher Abhans ermordet. Die Welt und das Gericht forderten, dass er dafür bezahlte. Alle außer Taos, der seine Krone eben jener Tat verdankte. Und deshalb hatte er, der Öffentlichkeit zum Trotz, Aric zum Hauptmann seiner Garde gemacht und dadurch das Leben des Königs in die Hände eines Königsmörders gelegt. Es hatte einen weltweiten Aufschrei darüber gegeben, doch Taos war es egal. Er wusste, was er Aric schuldete. Und Aric wusste, dass Taos diese Entscheidung nicht nur ihrer Freundschaft wegen getroffen hatte, sondern auch, weil er tatsächlich um seine Sicherheit fürchtete. Und an einem Hof, der jahrzehntelang einem Tyrannen gedient hatte, machte er den einen Mann zu seiner Leibwache, dem er rückhaltlos vertraute: Aric.Aric hatte damals das Einzige getan, das in seiner Macht stand, um die Wogen zu besänftigen: Er hatte Finja aus den Kerkern von Ibna nach Abeno geholt, ihm eine Armbrust gegeben und ihm befohlen zu schießen, sobald er gegen das ihm auferlegte Urteil verstieß. Taos wusste das und genau das war von Anfang das Problem gewesen. Er wollte Finja nicht dulden, selbst wenn er die Notwendigkeit seiner Anwesenheit zu einem gewissen Teil nachvollziehen konnte. Die Lösung war einerseits einfach, doch für Finja eine extreme Herausforderung: Er legte Taos gegenüber den Eid ab und setzte damit des Königs Befehl über alle anderen. Dadurch hatte Taos das Gefühl Gewalt über Arics Schicksal zu haben und Aric unterstützte dies durch seine Beteuerungen, Finjas Armbrust sei nur dazu da, Außenstehende zu beruhigen, die ein Problem darin sahen, dass Aric dem König so nahe kam. Ein Schauspiel, das sie Anfangs regelrecht zelebrierten, das irgendwann in den Alltag überging und zur Selbstverständlichkeit wurde. Taos lernte Finja für andere Qualitäten zu schätzen und der Mann achtete sorgfältig darauf, ihm niemals Anlass zum Zweifel zu geben. Niemals – bis heute.
Aric wusste wie Taos reagieren würde, er kannte ihn lange genug. Der Gedanke, dass Finja nun die Zellentür von der falschen Seite her anstarrte, ließ ihn einen Moment erschaudern.Er nahm es Taos nicht übel, wusste er doch, dass sein Handeln einen Ursprung hatte. Der König kämpfte mit seinen eigenen Dämonen. Nachdem er sich in jungen Jahren gegen seinen Vater aufgelehnt, der Rebellion angeschlossen hatte und das Leben eines Kriegers eingeschlagen hatte, war Maar regelrecht besessen davon gewesen, ihn in die Finger zu bekommen. Taos war die Hoffnung des Aufstandes gewesen, sein leuchtender Stern und Maar musste ihn vernichten, um den Aufstand in seinen Grundfesten zu erschüttern. Doch Taos war trotz allem sein einziger Erbe und Maar mochte ein kaltblütiger Tyrann gewesen sein, aber nicht dumm. Also sperrte er seinen Sohn in den tiefsten Kerker unter dem Schloss und suchte sich einen Schuldigen, der den Mord an ihm gestand.
Die Schuldige war in diesem Fall eine junge Magierin. Sie ließ sich auf den Handel mit Maar ein, um Taos' Leben zu schützen. Maar schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Er hatte einen Beweis für den Tod seines aufständischen Sohnes und er säte Zwietracht unter den Rebellen, indem er ihr Vertrauen in den eigenen Reihen erschütterte. Denn Estell, die Magierin, die für Taos' Tod verantwortlich gemacht und hingerichtet wurde, war ein führendes Mitglied des Widerstands. Was niemand wusste, war, dass sie außerdem Taos' Geliebte war und ihm ein Kind hinterließ. Eine Tochter, die, als Taos nach 18 Jahren Gefangenschaft von ihrer Existenz erfuhr, ihre Herkunft verleugnete. Sie wollte nicht mit dem Königshaus in Verbindung gebracht werden. Aus Angst um sich selbst und um den König. Taos musste ihre Entscheidung akzeptieren und stand mit einer Krone in der Hand vor den Trümmern seines Reiches – völlig allein.Aric kannte die Albträume, die Taos um den Schlaf brachten. Er wusste von den Ängsten, die der König sich selbst nicht eingestehen wollte. Finjas Schuss hatte eben diese aus der Versenkung gezerrt: Verrat in den eigenen Reihen, Hilflosigkeit trotz der ihm gegebenen Macht und die Furcht den einzigen Menschen zu verlieren, der sein Schicksal mit ihm teilte. Finja würde dafür bezahlen, auf die eine Weise, die Taos als angemessen erscheinen würde: In der Einsamkeit und Dunkelheit der Zellen, die ihn vom Leben getrennt hatten. Tief unter dem Schloss – dort, wo Aric seinem König zum ersten Mal begegnet war.
Der Schneefall wurde immer dichter und Aric trieb Boran zur Eile. Er musste die Ebene hinter sich lassen ehe die Nacht hereinbrach.
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Die Raben des Königs
FantasyAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...