Kapitel 22

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Als die beiden Reiter in der Ferne sichtbar wurden, schickte Ferdale Sam sofort los, den Hauptmann zu informieren. Sam wusste nicht mehr, wie lange er schon auf den Beinen war. Keiner von ihnen hatte in der Nacht viel Schlaf bekommen, doch im Gegensatz zu Sam waren die Männer an solche Ausnahmesituationen gewöhnt. Ferdale, der die letzten Stunden Wache auf der Mauer geschoben hatte, hatte dunkle Ringe unter den Augen, ansonsten verriet nichts die Belastung der letzten zwei Tage. Sein Blick war wach, seine Haltung aufrecht und seine Stimme scharf. Sam rannte los.

Seit dem letzten Morgen hatte er nichts anderes getan, als den Boten zwischen den Gardisten, dem Hauptmann und dem König zu spielen. Ständig rannte er durch die Gänge des Schlosses, die Treppen hinauf und hinab, zur Kaserne, zurück zur Mauer und wieder ins Schloss. Er hatte aufgehört zu zählen. Die Wände flossen an ihm vorbei, ohne dass er sie wahrnahm. Beim letzten Mal war der Hauptmann beim König im Thronsaal gewesen, um Finja abzulösen, der sich eine knappe Stunde Schlaf gönnte, bevor seine Wache auf der Mauer begann. Also steuerte Sam direkt dorthin und hielt sich auch nicht damit auf anzuklopfen. Beim ersten Mal hatte er das noch getan und der Hauptmann hatte unmissverständlich klar gemacht, dass er sich solche Höflichkeiten sparen sollte.

Sie saßen an der Ratstafel rechts von der Tür, der König, ein Mann in glänzender Rüstung, den Sam sofort als den Heerführer Othar erkannte und der Hauptmann, der ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte. Sam kam schlitternd vor ihnen zum Stehen.
„Zwei Reiter nähern sich der Stadt. Ferdale sagt, es sind Eric und Effi. Sie haben es eilig", überbrachte er seine Nachricht. Der Hauptmann sprang auf und schob ihn kommentarlos vor sich her aus dem Thronsaal.

Wenig später standen sie auf der Mauer und Ferdale deutete auf die kleine Staubwolke in der Ferne.
„Wenn sie das Tempo halten, reiten sie die Tiere geradewegs in den Tod", bemerkte er trocken. Aric verfolgte eine Weile schweigend die beiden Reiter, dann stieß er einen Pfiff von der Mauer und winkte einer der Wachen am Tor zu.
„Lass die Straße räumen, von hier bis hinunter zum Westtor. Eric und Effi dürfen nicht aufgehalten werden."
Der Soldat nickte und verschwand in der Stadt. Ferdale schüttelte besorgt den Kopf.
„Eric ist gnadenlos, wenn er muss, aber dass Effi das Leben ihrer Stute aufs Spiel setzt, verheißt nichts Gutes", bemerkte er leise. Sam sah zu ihm auf und dann zurück auf die Ebene, wo die Reiter ihr Tempo sogar noch zu erhöhen schienen.
„Nein", sagte der Hauptmann nur und schweigend beobachteten sie den Todesritt ihrer Kameraden.

Kurz bevor sie die Stadt erreichten, erhob sich Nort von Effis Sattel in die Lüfte und flog auf sie zu. Die Frau sah kurz auf, dann fixierte sie das Tor, das schon seit einiger Zeit für sie freigehalten worden war. In gestrecktem Galopp stürzten die beiden Pferde in die Stadt und verschwanden zwischen den Häusern. Der Hauptmann wartete nicht darauf, dass der Rabe die Mauer erreichte, sondern sprang die Treppe hinab und in den Hof hinunter. Sie hörten bereits den Hufschlag der Pferde in der Straße unter sich und Sam zuckte zusammen, als er Eric von Weitem brüllen hörte.
„Holt einen Heiler!"

Er sah, wie eine der Wachen losspurtete und blickte ängstlich zu Ferdale auf. Der blähte angespannt die Nasenflügel, sagte aber nichts. Da kam das erste Pferd um die Ecke galoppiert, die Nüstern voller Schaum, das Fell völlig durchnässt. Eric trieb es durch die Tore und riss an den Zügeln. Effi folgte etwas langsamer, ihr Pferd sah nicht besser aus. Sam rannte die Stufen hinunter, wo der Hauptmann bereits nach den Zügeln von Erics Wallach gegriffen hatte, und versuchte das Pferd unter Kontrolle zu bringen. Effi war noch im Ritt abgesprungen und lief zu den Beiden hinüber.
„Hauptmann!", rief sie und wich geschickt den stampfenden Hufen aus. „Er braucht dringend einen Heiler."
„Schon unterwegs", brummte der Hauptmann und erst jetzt bemerkte Sam, dass Eric nicht allein auf dem Pferd saß. Als der Wallach endlich zum Stehen kam, nahm Effi ihm bereits den Verwundeten ab. Sam keuchte, als er das viele Blut sah, das nicht nur Erics Vorderseite, sondern auch das helle Fell seines Pferdes tränkte. Effi legte den Verwundeten behutsam auf den Boden und strich ihm das Haar aus dem Gesicht.
„Kennt Ihr ihn?", fragte sie den Hauptmann. „Er hat nicht viel gesagt, außer Eurem Namen. Mehrmals. Und...", sie sah zu Eric auf, der mit grimmigem Blick näher kam und seinem Hauptmann etwas ins Ohr flüsterte. Der schloss die Augen und atmete tief durch. Der Rabe ließ sich auf seiner Schulter nieder, doch der Hauptmann schien es kaum wahrzunehmen.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt