In dem Moment, in dem sie die Hand nach dem Licht ausstreckte, wusste sie, was es war. Danach zu greifen war so selbstverständlich wie Atmen und als sie es berührte, da fuhr ein warmer Wind durch ihr Inneres, berührte sie und nistete sich ein. Und Anna begriff, dass die Dunkelheit hinter der Tür der Ort war, an dem die Seele des Serafin gewesen war – bevor Adalor sie ihr entrissen hatte, vor mehr als tausend Jahren. Diese Leere war das, was übriggeblieben war, ein Loch in ihrem Innern, ein Abgrund, ein Nichts. Der Schmerz über den Verlust traf sie völlig unvermittelt und so nachhaltig, dass sie blind davor kapitulierte. Sie schrie, sie weinte, sie fluchte, doch es half nichts. Denn das Licht, das Lorch ihr zurückgegeben hatte, war der Teil ihrer Seele, der fühlte. Und er zeigte ihr, weshalb sie ihn verloren hatte. Trauer zerriss ihr Herz, als die Gesichter eines Mannes und eines Säuglings sie heimsuchten, als sie an ihren Gräbern stand und vor dem Schicksal in die Knie ging. Sie spürte die Tränen, die ihre Sicht verschleierten, die vergeblich versuchten, die Traurigkeit zu mindern. Und dann spürte sie, wie die Klingen in ihr Herz fuhren, eine von hinten, eine von vorn, wie sie sie zu Boden stießen, auf das Grab ihres Sohnes, sie fesselten und knebelten, während ihr Blut ein Rinnsal auf der frisch aufgeschütteten Erde bildete. Sie wand sich, wehrte sich, doch jemand hielt ihr einen getränkten Lappen vors Gesicht und ehe sie sich versah, war da nur noch Dunkelheit.
Anna rang nach Luft, versuchte die Erinnerung von sich zu schieben, doch weitere folgten, überrannten sie wie eine durchgehende Herde Bullen. Verzweiflung, Angst und alles verzehrende Wut – dann Schmerz, so unendlich, so scharf, so vernichtend, dass es sie um den Verstand brachte. Man schnitt sie auf, brach sie auseinander und zog sie aus ihr heraus, ein Stück nach dem anderen, während sie schrie und schrie und niemand sie hörte.
Dann war da nur noch Leere und eine unbestimmte feuchte Kälte, die in ihre Brust gedrückt wurde, als versuchte jemand das blutige Loch mit Lehm zu füllen. Sie sah zu wie sie in die Erde gestoßen wurde, wie Schaufel über Schaufel auf ihrem leblosen Körper landete – leblos, bewegungslos, tot. Ein weggeworfenes Stück Fleisch, zerstört und nutzlos. Dann schloss sich die Erde über ihr und es wurde dunkel. Ihr Traum zog aufs Neue an ihr vorüber, nur dass es dieses Mal kein Traum war, sondern eine Erinnerung. Und sie wusste, was es bedeutete. Sie begriff das Gefühl des Verlustes, begriff, dass die Elemente sie nicht sehen konnten, weil sie nicht da war – weil ihre Seele nicht mehr in ihrer Brust ruhte.
Die Erinnerung brach ab und veränderte sich. Lorchs Gesicht erschien vor ihr, seine Züge jung, der Blick voller Neugier und Tatendrang. Er streckte die Hände nach ihr aus und plötzlich wurde es eng um sie. Als versuchte man den Inhalt eines ganzen Fasses in eine Phiole zu pressen. Sie bekam kaum noch Luft, schob sich gegen die Wände, die sie umschlossen, bis sie merkte, dass es keine Wände waren, sondern ein Körper. Der Körper eines Erdlings, in dessen Seele nun ihre eigene gebettet war. Doch die Seele des Serafin umfasste die ganze Welt. Der Erdling konnte ihr niemals gerecht werden.
Jahre zogen an ihr vorbei. Jahre aus Lorchs jungem Leben in einer Welt, die sich rasant veränderte. Die Völker entfernten sich voneinander, unbemerkt wurden die Kontakte weniger, wurden Freunde und Verbindungen vergessen, verblassten und verschwanden irgendwann ganz. Die Welt wurde kleiner auf eine Art, primitiver in vielerlei Hinsicht, doch diejenigen, die in ihr lebten merkten nichts davon, da sie sich gemeinsam mit ihrer Welt veränderten. Nur Lorch, die Seele des Serafin in sich tragend, beobachtete das Geschehen. Er begann erste Bedenken zu äußern, versuchte erst vorsichtig, dann immer vehementer auf die Umstände aufmerksam zu machen. Doch niemand hörte ihm zu. Niemand verstand, wovon er sprach. Und so wie eine offene Wunde langsam verheilt, verschloss sich die Welt um Lorchs Seele. Die Silieren verschwanden, die Nixen verschwanden. Die Natur veränderte sich. Lorch sah mit Schrecken zu, wie die Menschen die Welt für sich einnahmen, wie sie sich vermehrten und ausbreiteten, wie sie immer jünger, immer getriebener und immer kurzlebiger wurden. Kriege überzogen das Land, Völker bildeten sich aus, Königreiche schossen wie Unkraut aus dem Boden und ein jedes verteidigte seine Existenz. Lorchs eigenes Volk floh vor dem Feldzug der Menschen und zog sich unter die Erde zurück. Auch sie veränderten sich. Langsamer, aber stetig. Über die Jahrhunderte wurde Lorch immer stiller und zog sich in seiner Verzweiflung immer mehr zurück. Bis eines Tages ein Wesen an seine Tür klopfte, das er schon beinahe vergessen hatte. Doch die Seele des Serafin erinnerte sich noch an das Volk der Silieren. Und der Mann, der Lorch in seiner Eremitage aufsuchte, war kein geringerer als der Kan der westlichen Silierenstämme.
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Die Raben des Königs
FantasíaAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...