Anna hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. An Anubas Arm hängend stolperte sie durch den Sumpf wie eine Blinde. Die Erschöpfung war so übermächtig, dass sie kaum noch an etwas anderes denken konnte. Selbst Lorchs Erinnerungen waren in den Hintergrund gerückt. Sie sah, wie der Windling ihre Mutter besuchte, wie er ihr den Wind einhauchte, sah ein weiteres Mal ihre eigene Geburt und die Hinrichtung ihrer Mutter zog an ihr vorbei wie ein Gespenst in der Nacht.
Schaudernd und keuchend setzte sie einen Fuß vor den anderen. War zu schwach die Erinnerungen zu unterdrücken und nicht stark genug sie zu ertragen. Sie fror, Tränen liefen ihr die Wangen hinab und vermischten sich mit dem Blut und dem Schweiß auf ihrem Hemd. Sie wusste nicht mehr, ob ihr Herz noch schlug, ob sie atmete, ob sie lebte. Ihre Glieder wurden taub und irgendwann gaben ihre Beine unter ihr nach. Sie konnte nicht mehr.„Anna? Bitte gib jetzt nicht auf, bitte steh auf!", drängte Anuba sie und hob ihr Gesicht an. Ihre Hände wischten die Tränen fort, strichen ihr zärtlich durchs Haar. Anna schloss die Augen – und machte sie nicht wieder auf. Anubas Stimme wurde zu einem Lied aus Angst und Sorge zu dem Lorch den Rhythmus schlug.
„Was soll das heißen, du weißt nicht, wo sie ist?", fuhr Raash ihn an.
Lorch atmete tief durch. Der Siliere konnte wirklich anstrengend sein.
„Das heißt, sie hat das Kind einem Geheimnishüter anvertraut und der macht ganz offensichtlich seinen Job. Sie bleibt für diese Welt unsichtbar."
„Und wie in aller Elemente Namen sollen wir sie führen, wenn wir nicht wissen, wo sie ist? Verdammt Lorch, wir wissen ja noch nicht einmal, wer sie ist!"
„Sie ist noch ein Kind, Raash. Was willst du von ihr? Ganz sicher ist es besser sie lernt erst einmal zu laufen und zu sprechen, bevor wir uns Gedanken über ihre Magie machen!"
„Und was lässt dich glauben, dass du sie in 10 Jahren finden kannst, wenn du es heute nicht vermagst?"
„Weil sie ein Mensch ist. Sie hat Bedürfnisse, sie wird Fehler machen. Wir werden sie nicht suchen müssen Raash, sie wird sich irgendwann finden lassen."
„Irgendwann ist mir zu wenig! Ich will den Hüter sehen, dem du das Mädchen anvertraut hast. Er wird mehr wissen."
„Und er wird es dir nicht sagen. Das liegt in seiner Natur, Raash!"
„Ich finde ihn!"
„Raash! So warte doch!"
Doch der Siliere rauschte ohne ein weiteres Wort davon. Lorch seufzte.
Dass sie fiel, wurde ihr erst bewusst, als ihr Kopf auf dem Boden aufschlug.
„Anna! Anna, wach auf!", schrie Anuba sie an, die sie offenbar getragen hatte und mit ihr gestürzt war. Sie rüttelte an ihr, schlug ihr ins Gesicht, doch Annas Lider waren so schwer. Alles an ihr war schwer...
„Lass sie in Ruhe, Adalor. Du wirst uns noch alle umbringen!"
Adalor... der Name verfing sich in ihrem müden Geist.
„Sie wird uns alle umbringen, Erdling! Sie zerstört das Gleichgewicht", erwiderte Adalor. Diese Stimme, sie hasste sie, fürchtete sie. Ihr Herz schlug träge gegen ihre Brust, jeder Atemzug war eine Entscheidung...
„Ein unnatürliches Gleichgewicht! Es lässt unsere Welten sterben! Siehst du das denn nicht? Nur die ursprüngliche Ordnung kann uns retten. Nur sie kann das!"
„Dummes Ding. Sie wird die Welten zerstören, die Völker vernichten. Sie hat bereits damit begonnen. Wer glaubst du, hat die Windlinge auf dem Gewissen? Und sie wird auch vor euch nicht Haltmachen!"
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Die Raben des Königs
FantasyAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...