Kapitel 18

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Der Nebel wurde dichter. Es störte sie, denn er nahm ihr die Sicht. Anna blinzelte, rieb sich die Augen, als hoffte sie ein beschlagenes Fenster zu klären. Doch der Nebel drang auf sie ein, in sie hinein. Er raubte ihr die Sicht, dann den Atem, legte sich auf ihre Lungen wie Wasser. Anna würgte. Hustend richtete sie sich wieder auf, versuchte das drückende Gefühl loszuwerden.

Da war etwas vor ihr, eine Bewegung. Anna stolperte vorwärts.

Angst überfiel sie plötzlich und heftig, ihr Herz raste. Doch Anna begriff schnell, dass es nicht ihre eigene Angst war. Sie begann zu rennen, tiefer in den Nebel, tiefer hinein in diese drückende Leere.

„Warte!", wollte sie rufen, doch der Nebel verschluckte ihren Atem und ihre Stimme. Sie keuchte. Da... Augen in der Finsternis, blau und leuchtend.

Anna blinzelte, als sich mehr von der Gestalt aus dem Dunst schälte. Sie war riesig, doppelt so groß, wie sie selbst, ihr Körper verfloss mit dem Nebel, war kaum zu bestimmen, lange Arme, dünne Beine, Haar so fein wie ein Lufthauch. Es zog sich in einer schmalen Bahn über den Kopf, dann über den Rücken, bis es in einem Schweif endete, der fahrig gegen die langen Beine schlug. Anna lächelte den Windling vorsichtig an und eine tiefe Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie erinnerte sich an ihn. Seit dem Angriff suchte sie ununterbrochen nach ihm und seinesgleichen. Er war wunderschön.

Der Windling riss die Augen auf, dann blickte er sich hektisch um. Seine Gestalt zerfaserte, setzte sich wieder zusammen und er beugte sich zu ihr hinab. Seine Berührung war kalt und zart, ein Kuss aus Wind. Anna öffnete den Mund, kühle Luft riss den Nebel von ihrer Lunge und endlich konnte sie freier atmen.

„Danke", hauchte sie.

Der Windling nickte. Dann streckte er die Hand nach ihr aus, feingliedrig, durchscheinend, ebenso ätherisch, wie der Rest der Gestalt. Anna zögerte nicht, als sie danach griff.

Im nächsten Moment wurde sie mitgerissen. Unter ihr nur vage Schemen von Eis und Schnee, scharfen Gipfeln und dunklen Tälern. Irgendwann wurde der Nebel lichter, sie erkannte Bäume und Tiere, die über die Hänge huschten. Berge wurden von Hügeln abgelöst, flachten ab und bald zog eine bunte Landschaft aus Wiesen, Wald und Feldern unter ihnen hinweg. Dörfer flogen regelrecht vorbei, doch erst als die Mauern vor ihr sichtbar wurden, begriff Anna, wohin der Windling unterwegs war. Sie fragte nicht nach, ließ sich weiterziehen, über die Ausläufer der Stadt, bis zu der dunklen Burg, zu dem Balkon, auf dem die Vorhänge durch die offenen Türen wehten. Anna wollte etwas sagen, doch der Windling zog sie kommentarlos hinein und blieb an dem großen Bett stehen.

Zwei Personen lagen darin, Anna kannte sie. Leylas dunkles Haar ergoss sich über das Kissen, ihre Miene friedlich im Schlaf, ihre Hand ruhte auf der Brust des Mannes neben ihr. Sein goldenes Haar funkelte im Mondlicht, die gebräunte Haut unterstrich die Attraktivität der gemeißelten Gesichtszüge. „Schönling", hatte Gorjak ihn genannt. Lucius hatte sich nie dagegen gewehrt. Doch nun verunstaltete eine steile Falte zwischen seinen Brauen das ebenmäßige Gesicht. Anna streckte ihre Sinne nach ihm aus. Hatte er Schmerzen?

Plötzlich hob der Windling die Hand, schob sie zurück. Er beugte sich über Lucius' schlafende Gestalt und atmete in seine zu einer Schale geformten Hände. Etwas nahm zwischen seinen Fingern Gestalt an, etwas Mächtiges – pure Magie. Anna blinzelte, als sie erkannte, was es war. Im selben Moment presste der Windling diesen wabernden Ball aus Macht auf Lucius' Brust. Der Magier verkrampfte sich, keuchte und ein Schrei kam ihm über die Lippen, der Anna das Herz zerriss. Er schlug die Augen auf, griff sich an die Brust und stöhnte. Der Wind fegte durch das Schlafzimmer, als führte er ein Eigenleben.

„Lucius?", regte sich Leyla neben ihm und ihre Hand tastete schlaftrunken nach dem Mann, den sie liebte. Lucius verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war, und fiel zurück in die Kissen.

„Lucius!", rief Leyla, plötzlich hellwach und begann ihn zu schütteln und zu tätscheln. „Lucius, was ist los?"

Anna blickte von der verängstigten Herzogin zu dem Windling, dessen Gestalt sich langsam aufzulösen schien. Schmerz durchzog ihren Geist, der nicht ihrer war, dann Trauer und schließlich...

„Nein!", hauchte sie, doch der Windling lächelte nur. Dann schloss er die Augen und verging.

Anna spürte die Tränen kaum, die ihr über die Wangen liefen, als sie begriff, was der Windling getan hatte. Seine Seele – er hatte Lucius seine Seele gegeben – und war gestorben. Der Schmerz des Verlustes drückte sie nieder, ließ ihre eigene Seele zerreißen, ließ eine Wunde zurück, die nicht heilen konnte, nicht heilen durfte. Denn in diesem Moment wurde ihr die grausame Wahrheit bewusst: Er war der letzte gewesen. Und mit ihm ging ein ganzes Volk.

Als hätte er auch ihre Sinne mit sich genommen, zog neuer Nebel auf, drängte sie zurück, und raubte ihr den Atem. Anna verlor den Boden unter den Füßen, alles begann sich zu drehen. Sie ruderte mit den Armen, versuchte nach irgendetwas zu greifen, Halt zu finden. Angst, echt und unverfälscht flutete ihr Herz und Anna begann zu schreien.


„Anna! Was ist los?"

Schweißgebadet bäumte sie sich auf, ein Teil von ihr noch immer in Lucius' Schlafzimmer gefangen, ein Teil wieder zurück in ihrem Bett in Saronns Burg. Seine Hand strich warm über ihren nassen Rücken, seine Stimme klang beruhigend.

Anna rang nach Atem, versuchte in der Realität anzukommen, doch es gelang ihr nicht. Ununterbrochen sah sie den sterbenden Windling, sein trauriges Lächeln, seinen scharfen Blick. Er hatte ihr etwas mitteilen wollen...

Eisige Kälte umschloss ihr Herz, kroch durch alle Glieder, durch ihre Sinne. Sie blinzelte, versuchte einen klaren Blick zu bekommen, doch noch immer war da dieser Nebel.

„Saronn!", keuchte sie. „Hilf mir!"

Sofort war Saronn über ihr, seine Hände griffen nach ihren Schultern, sein Blick suchte ihren. Doch Anna sah ihn nicht, Das Eis breitete sich in ihrer Mitte aus, griff nach ihrer Seele. Sie übergab sich über die Bettkante, rang röchelnd nach Atem.

„Anna!", hörte sie Saronns Stimme. Vage nahm sie wahr, wie seine starken Arme sie immer noch festhielten. Sein Feuer drang auf sie ein, wirbelte mit der Kälte um die Wette. Dann riss etwas in ihr auf, Energie stürzte über sie hinweg, wild und ungehemmt, wie ein Staudamm, der mit Macht eingerissen wird. Jemand schrie, Fenster barsten und Feuer stob aus der Burg.

Saronn keuchte, als das Feuer auch in ihm hochkochte. Sein Atem kam gepresst, er ballte die Hände zu Fäusten, versuchte den Ausbruch zu kontrollieren. Ein Windstoß fegte über den Berg und riss alles mit sich, was nicht fest in der Erde verwurzelt war. Auroras Schreie drangen von irgendwo her an ihr Ohr, die Flammen stiegen höher.

Anna kämpfte. Die Elemente in ihr tobten, und der Strom aus Energien begann einen weiteren Abgrund hinabzustürzen. Sie griff danach, legte ihre eigene Essenz darum, zog und zog, als wollte sie eine Lawine mit bloßen Händen davon abhalten, einen Berg hinunterzurollen und alles in ihrem Weg zu verschlingen. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich.

Und langsam, ganz langsam ebnete sich der Strom. Er floss immer noch unbeherrscht, immer noch zügellos, doch er floss durch ihre Essenz, wurde durch sie gebremst, gehalten, stabilisierte sich. Anna rang nach Atem, würgte erneut. Ihr war schwindelig, ihr Kopf dröhnte. Trotzdem versuchte sie sich aufzurichten.

„Was war das?", verschaffte Saronn sich Aufmerksamkeit. Sie sah ihn an, sah ihn nur verschwommen, die Worte formten sich unwillig, fast widerstrebend. Ihre Stimme klang fremd.

„Das... war der letzte Windling. Der Wind, Saronn... ist tot. Das Gleichgewicht ist zerstört."

Wieder krümmte sie sich, konnte es nicht fassen. Da war Feuer, da war Erde, da war Wasser. Alles in Aufruhr, völlig ins Chaos gestürzt, Magie floss blind zu dem einen Ort, wo eigentlich Wind hätte sein sollen. Als wollte sie ein Loch stopfen, das mit jedem Versuch nur noch größer wurde. Anna keuchte.

„Ruhig, Anna. Was auch immer du gerade tust, hör nicht damit auf. Die Elemente stabilisieren sich. Behalte die Kontrolle, hörst du?"

Anna nickte schwach, der Strom aus Magie zerrte an ihrer Essenz, riss sie in Fetzen, während Anna sie immer wieder neu zusammensetzte, wieder und wieder. Schmerz raste durch ihre Glieder, ihren Geist. Sie stöhnte.

„Saronn! Du musst..."

Saronns Stimme brummte beruhigend.

„Konzentriere dich, Anna. Ich kümmere mich um denRest."

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt