Kapitel 101

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Aric richtete seinen Blick nach innen.

„Anna?", fragte er.

Keine Antwort. Immer wieder rief er ihren Namen, während er durch ihre Seele glitt. Chaos umgab ihn. Die herrliche Welt, durch die er zuvor hier geschritten war, hatte sich aufgelöst, Licht und Dunkelheit kämpften um die Vorherrschaft. Annas Seele wand sich unter Qualen, versuchte vor der Kälte zu fliehen, die sie durchdrang. Immer wieder pulsierte ein Strahl aus Licht und Wärme durch sie hindurch, doch jedes Mal wurde er gefangen genommen und erstickt. Ihre Angst raubte Aric den Atem, doch er schaffte es nicht sie zu erreichen. Er wusste auch nicht wie. Irgendwo in der unendlichen Weite ihres Geistes musste sie sein, ihre Essenz, das Innerste ihres Wesens, doch wie sollte er sie finden, wo nach ihr suchen? Er folgte ihren Gefühlen, ihren Schmerzen, ihrer Stimme, die unter den Qualen aufstöhnte. Ihre Seele vibrierte, zitterte wie im Fieber, Bilder und Fragmente flogen an ihm vorbei, manchmal glitt er auch durch sie hindurch, sah Berge, sah Meer, den Himmel, mal Geschöpfe, die er kannte, mal Wesen, die er sich im Traum nicht hätte vorstellen können. Doch die Bilder verblassten, zogen weiter und ließen ihn wieder in der Leere zurück.

„Wu!", rief er irgendwann einer Eingebung folgend. Wenn Anna ihn nicht hörte, dann vielleicht der Windling. Er hatte ihm schon mal geholfen.

Doch auch er reagierte nicht, keine Spur von ihm. Aric seufzte, versuchte sich den Windling ins Gedächtnis zu rufen. Sein Gesicht, seine Worte...

„Deine Seele ist der Schlüssel."

Plötzlich formte sich um ihn ein Bild. Feuchte Wiesen im Morgennebel. Ein kleines Haus in seinem Rücken. Vor ihm hüpfte ein Junge lachend über das Gras und jagte den bunten Blättern nach, die der Wind von den Bäumen holte. Aric kannte das Kind, das schwarze Haar und die schwarzen Augen unverkennbar seine eigenen. Und das Haus, die Lichtung – sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es war sein Zuhause.

Morgennebel ließ die Füße des Jungen im Nichts verschwinden, kroch über die Hügel und verfing sich im Geäst der Sträucher. Seine kleine Hand griff danach und sah staunend zu, wie er zerstob, vor ihm aufstieg, sich verformte. Dann war da plötzlich eine Gestalt, ein Gesicht im Nebel... Aric hielt den Atem an, als er Wu erkannte.

„Hallo seltsames Kind, Mischling, Erdling, Mensch, Serafin. Deine Seele widersetzt sich allen Gesetzen der Welt, weißt du das? Sie dürfte gar nicht existieren. Nicht so. Nicht mit dem Funken des Serafin in sich. Das macht dich einzigartig. So einzigartig wie der Serafin selbst. Du bist ihr Gegenstück, ihr Begleiter, du wurdest erschaffen, um sie zu ergänzen. Eines Tages wird sie dich brauchen, Junge. Du darfst sie nicht im Stich lassen!"

Aus dem Nebel formte sich eine Hand.

„Ich war in allen Welten, kleiner Mann. Der Wind findet immer einen Weg. Ich habe dir etwas mitgebracht."

Aric starrte mit großen Augen auf die dargebotene Hand. Ein Leuchten drang durch die geschlossenen Finger.

„Nimm es!", forderte der Nebel.

„Was ist es?", fragte der kleine Aric mit seiner neugierigen hellen Kinderstimme.

„Es sind die Tränen, die der Serafin geweint hat, das Blut, das sie vergossen hat, die Schreie, die sie ausgestoßen hat, als man ihr die Seele nahm. Wie der Sternenstaub, der zurückbleibt, wenn eine Sonne verglüht. Es ist Kraft und Magie. Es ist die Stärke, mit der sie um ihr Leben gekämpft hat. Sie wird diese Stärke brauchen, wenn es soweit ist. Sie wird dich brauchen."

Der Junge griff nach dem Leuchten in der nebligen Hand und als er es berührte durchzuckte ihn ein heller Blitz. Dann sank er bewusstlos zu Boden. Das Gesicht im Nebel aber blickte auf. Sein Blick traf Arics und durchbohrte ihn regelrecht. Dann nickte er ihm zu und im nächsten Moment war er verschwunden. Ein Wind nahm die Nebelschwaden mit sich und Aric blinzelte, als dahinter eine Tür zum Vorschein kam.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt