Kapitel 9

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Die nächsten Tage waren unterirdisch und Sam wurde das Gefühl nicht los, dass er es verdiente, nachdem er das Buch an sich genommen hatte.
Nora prügelte ihn windelweich, weil er keine Schuhe trug, Hogart nutzte die Situation aus, indem er ihm bei jeder Gelegenheit auf die Füße trat und in jeder noch so kurzen Atempause, die sich bot, wurde er zu irgendwelchen Diensten abgerufen. Wasser in den Kasernenhof tragen, die schlammigen Furchen im Hof mit Sägemehl bestreuen, wieder Wasser in den Kasernenhof tragen, die Getreidelieferung vom Wagen holen und in die Keller bringen, damit der nächste Regen sie nicht zerstörte, und so weiter.
Sam ließ zweimal sein Mittagessen sausen, das Frühstück schlang er so schnell hinunter, dass ihm schlecht wurde und am Abend fiel er todmüde auf seine Schlafbank ohne dem Buch unter seinem Kopfkissen auch nur eines Blickes zu würdigen, geschweige denn Zeit dafür aufzubringen, es in die Bibliothek zurückzubringen. Zu allem Überfluss brachte der Sattler ihm die Überreste seiner Schuhe mit dem Kommentar sie seien nicht mehr zu retten. Nachdem der Mann sie in der Mangel gehabt hatte, waren sie das auch nicht mehr.
Sam starrte müde auf die zerfetzen Lappen und seufzte schwer. Nora würde ihn umbringen, wenn er in der nächsten Woche nicht mit irgendwelchem Schuhwerk aufwarten konnte. Henna ließ sich kopfschüttelnd neben ihm nieder und kaute auf einem Brötchen, dass sie sich für die fünf Minuten Pause aufgehoben hatte, die entstanden, wenn Nora draußen die Lieferung inspizierte.
„Scheiße, Sam!", sagte sie mitfühlend.
Sam konnte nur schlucken. Es half alles nichts. Henna brach ein Stück von ihrem Gebäck und hielt es ihm unter die Nase.
„Iss was, sonst fällst du noch vom Fleisch wie seine Majestät", sagte sie und ahmte dabei Noras Tonfall so gut nach, dass Sam trotz seiner Sorgen grinsen musste. Er griff nach dem Brötchen und biss hinein.
Nora beschwerte sich ständig darüber, dass der König zu wenig aß. Sie versuchte seit Jahren ihn zu päppeln, doch seine Majestät lehnte jede Extraportion ab. Er aß dieselben Kartoffeln und Bohnen wie seine Soldaten und nur selten Fleisch. Süßes Gebäck und Pudding rührte er ebenso wenig an, was Nora regelmäßig in die Verzweiflung trieb.
„Ein König muss auch königlich speisen!", zitierte sie immer wieder.
Doch die Anordnungen seiner Majestät waren eindeutig: Keine Extravaganzen. Nora fügte sich in ihr Schicksal und jubelte dem König stattdessen Kalorien in Form von zerlassener Butter auf seinen Kartoffeln und Käse in seinem Gebäck unter. Das Meckern ließ sie sich dennoch nicht nehmen.
„Was sitzt ihr hier herum? An die Arbeit, zack, zack, zack. Sam, feg das Mehl vom Boden, Henna was ist meinem Teig? Das Brot bäckt sich nicht von allein!", fuhr die Stimme der Köchin durch den Raum und unterbrach ihre Atempause.
Mit einem Seufzen erhoben sie sich und Sam griff nach Besen und Schaufel. Die Dämpfe aus dem kochenden Eintopf vermischten sich mit dem Qualm aus dem Ofen und bald waren sie wie immer nassgeschwitzt bis auf die Haut.


Plötzlich entstand Unruhe am Kücheneingang.
„Nora, ich brauche deinen Küchenjungen", sagte eine strenge Stimme und Sam zuckte augenblicklich zusammen. Er schob sich auf Knien nach vorn und lugte um den Herd herum zur Tür. Als er die schwarze Uniform sah, rutschte ihm der Magen in die Knie. Es war Finja, die rechte Hand des Hauptmanns.
Die Köchin stieß ein schrilles Lachen aus.
„Sam geht nirgendwo hin, solange ich ihn hier brauche!", erwiderte sie und machte Anstalten den Gardisten aus der Küche zu komplementieren.
„Befehl des Hauptmanns. Ich kann nicht ohne ihn zurückkommen, Nora."
Sams Gedanken rasten. Was war passiert? Hatte jemand herausgefunden, dass das Buch fehlte? Er spürte den leisen Lufthauch und Hennas Schürze streifte seine Hand, als sie sich neben ihn kniete.
„Sam, hast du was ausgefressen?", fragte sie ein wenig panisch. Sam biss sich auf die Lippen und versuchte sich daran zu erinnern in den letzten Tagen irgendetwas falsch gemacht zu haben. Aber abgesehen von dem Buch... plötzlich wurde ihm heiß. Die Rekrutenauswahl! Er hatte den Fremden und seine unbedachten Worte beinahe vergessen. Was wenn...
„Dann sag deinem Hauptmann, er kann den Jungen haben, wenn unser König stattdessen auf sein Essen verzichtet, denn ohne ihn werden wir hier mit der Arbeit nicht fertig!"
Sogar der Gardist musste wissen, dass diese Alternative für Nora nicht in Frage kam. Sam spürte leise Hoffnung in sich aufkommen. Nora konnte zum Biest werden, wenn man sich in ihren Hoheitsbereich einmischte.
„Der Hauptmann ist nicht davon ausgegangen, dass du auf seine Arbeitskraft verzichten kannst. Deshalb bietet er dir Ersatz."
Sam lugte um die Ecke und erstarrte. Zwei große muskelbepackte Gardisten traten über die Schwelle. Sie trugen ihre schwarzen Hosen, aber davon abgesehen nur dünne Hemden und Kopftücher, die sie fast lächerlich wirken ließen. Sie verzogen keine Miene, als sie hinter ihrem Vorgesetzten Stellung nahmen.
„Deine neuen Küchenhilfen", stellte Finja sie lächelnd vor und machte damit sogar Nora sprachlos. Sie starrte die Männer von oben bis unten an und schnaubte.
„Saaam!", brüllte sie durch den Dunst.
Sam wurde schlecht, sein Puls raste und hätte Henna ihm nicht einen kleinen hilfreichen Schubs gegeben, hätte er es wohl nicht geschafft sich in Bewegung zu setzen. Mit gesenktem Blick und rebellierendem Magen schlurfte er zur Küchentür.
„Was hast du ausgefressen, hmm?", verlangte die Köchin zu wissen, doch Sam blieb stumm. Was hätte er auch sagen sollen?
„Sag deinem Hauptmann, wenn ich den Jungen nicht in einem Stück zurückbekomme, behalte ich seine Raben. Beide!", fuhr sie Finja an.
Der schnalzte nur mit der Zunge und gab den beiden Gardisten hinter sich ein Zeichen.
„Macht euch nützlich", befahl er knapp, dann wandte er sich Sam zu.
„Bist du Samuel?", fragte er und Sam brachte ein vages Nicken zustande.
Mehr schien Finja auch nicht zu erwarten. Er machte auf dem Absatz kehrt.
„Komm mit", sagte er und verließ die Küche. Sam blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Er stolperte hinter dem Gardisten her über den Hof und durch die dunklen Gänge des Schlosses. Finja sagte kein Wort, nickte nur hin und wieder jemandem zu, der ihnen auf dem Weg begegnete und ging ohne anzuhalten weiter.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt