„Ich brauche mehr Licht", verlangte der Heiler und Efraim schnaubte ungehalten. Der Mann war, wie die meisten Vertreter seines Berufes, über alle Rücksicht und jedweden Respekt gegenüber Rang und Namen erhaben. Er hatte ein Leben zu retten, mehr interessierte ihn nicht. Selbst wenn dieses spezielle Leben etwas außerordentlich Besonderes war, musste sich Efraim schwer zurückhalten, um dem Heiler nicht die Leviten zu lesen.
„Es gibt kein Licht. Nicht mehr als das bisschen, das ihr bereits habt", erklärte er zum fünften Mal in der letzten Stunde.
Wie die Feuer im Hof, brannten auch die Lampen nur schwächlich und die Wolken ließen keinen einzigen Sonnenstrahl durchsickern, sodass schon den ganzen Tag eine Art Dämmerung herrschte.
Efraim wusste genug über die Welt und die Mächte, die darin herrschten, dass er die seltsamen Umstände durchaus einzuordnen vermochte. Der verwundete Siliere auf der Bank vor ihm – ein wahrhaftiger Siliere, bei den Göttern – untermauerte seine Vermutungen nur.Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem der König ihm das Zeichen des Raben an die Brust gesteckt hatte. Noch am selben Abend hatte der Hauptmann in seinem Zimmer gestanden, eine Truhe voller Bücher hinter sich.
„Lies das, bis du es auswendig kannst. Ergänze es um jedes bisschen, das du in der Bibliothek oder anderswo finden kannst. Ich will, dass dieses Wissen in deinen Kopf gebrannt wird und jederzeit unter allen Umständen abrufbar ist."
Damit hatte er die Truhe und Efraim in seinem Zimmer allein gelassen. Zwei Wochen lang hatte er sich durch die Seiten und Werke gewälzt und war zu einem Schluss gekommen, der ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Mit ungutem Gefühl im Bauch und einer belastenden Vorahnung war er zu seinem Hauptmann gegangen und hatte ihm die eine Frage gestellt, die ihn nicht losließ: „Wozu das alles?"
Der Hauptmann hatte einen Blick auf das Buch in seinen Händen geworfen und erwidert:
„Weil der Tag kommen wird, an dem wir es brauchen werden. Und dein Wissen wird uns dann vielleicht das Leben retten."Es war nicht so, dass er diese Antwort nicht erwartet hätte. Nach allem, was er gelesen hatte, war es die einzige logische Schlussfolgerung. Trotzdem, wenn der Hauptmann Recht hatte, würde ihm diese Tatsache für den Rest seines Lebens den Schlaf rauben.
Und dann war da noch die Frage, woher der Mann überhaupt davon wusste. Der Hauptmann schien seine Fragen zu vermuten, doch was er sagte, schob jeder weiteren Bemerkung einen Riegel vor.
„Ich habe dich nicht in die Garde aufgenommen, weil du mit dem Schwert umgehen kannst, Efraim. Ich brauche deinen Verstand. Lies die Bücher!"
Eine Wahrheit, die nicht nur ihm selbst Kopfzerbrechen bereitet hatte, seit er als Rekrut seinen ersten Übungskampf angetreten hatte: Er war eine Niete. Doch Efraim hatte die Zähne zusammengebissen, hatte gekämpft, sich verbessert, weitergekämpft. Bis er eine Art Können an den Tag legte, das sich zwar nicht mit dem seiner Kollegen messen konnte, aber durchaus einem Gardisten des Königs würdig war. Seine Kameraden zogen ihn damit auf, doch niemand wagte es den Hauptmann für seine Wahl zu kritisieren.An jenem Tag, als er mit dem Buch in den Händen vor dem Hauptmann stand, verstand Efraim so einiges: Er verstand, warum er hier war, warum der Hauptmann ihn seinerzeit in der Bibliothek in Afenkirk angesprochen hatte, während der König sich dort mit einem befreundeten Gelehrten getroffen hatte. Und er verstand auch, warum der Hauptmann ihn erst jetzt über seine Motive aufklärte. Hätte er den wahren Grund für seine Rekrutierung gekannt, er hätte sicher nicht so verbissen trainiert und niemals die Grenzen überschritten, die seine Unzulänglichkeit mit der Waffe ihm auferlegt hatte. Seit jenem schicksalhaften Tag hatte er kein Training ausgelassen und nie eine freie Minute ohne Buch unter der Nase verbracht.
Efraim betrachtete den bewusstlosen Silieren und wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, an dem der Hauptmann die Früchte seiner Arbeit ernten würde.
Als hinter ihm die Tür aufging, zuckte er unwillkürlich zusammen. Noch überraschter war er aber, als der König den Raum betrat. Er nickte Efraim zu und musterte den Jungen.
„Wie geht es ihm?", fragte er leise, um die Arbeit des Heilers nicht zu stören. Selbst der König schien zu wissen, dass das keine gute Idee war. Efraim verkniff sich ein Grinsen, das in diesem Augenblick völlig unangemessen war.
„Schwer zu sagen. Er atmet noch, was an sich schon ein Wunder ist. Er hat ein Loch im Unterleib, besser kann ich es nicht beschreiben. Es wurde nicht von einer Klinge gerissen. Was immer es war, war größer und gröber. Wahrscheinlich auch stumpf. Selbst der Heiler kann es sich nicht recht erklären, obwohl er Reste von Rinde und Moos darin gefunden hat. Doch das kann ebenso von dem Waldboden stammen, auf dem er gelegen hat. Es lässt sich nicht einmal sagen, ob der Stoß von hinten oder von vorn kam. Es gibt keine typischen Kennzeichen für eine Ein- oder Austrittswunde. Der Junge scheint zäh zu sein. Er hat den Höllenritt überlebt und literweise Blut verloren. Kaum vorstellbar, wo er die Kraft dafür hernimmt", erklärte er seinem König.
Der nickte nachdenklich.
„Die richtige Motivation lässt uns Unmögliches leisten. Koshy ist ein Kämpfer."
„Koshy?", fragte Efraim verwundert und kniff die Lippen zusammen, als hinter dem König ein dunkler Schatten erschien. Der Hauptmann trat an ihm vorbei ans Bett und musterte den Silieren.
„Er hat schon schlimmere Feinde als den Tod bekämpft", sagte er überzeugt. „Er wird es schaffen."
Efraim sah von einem zum andern und konnte seine Neugier nicht zügeln.
„Ihr kennt ihn?", fragte er vorsichtig.
Die Lippen des Hauptmanns formten ein Lächeln, das sogar seine Augen erreichte. Selbst der König schien überrascht von dieser Gefühlsregung.
„Ich habe mit ihm auf den Mauern Zenons gestanden. Er ist der tapferste Junge, den ich kenne."
Der König nickte wissend, doch Efraim starrte den Jungen an.
„Wisst Ihr denn wie alt er ist?", fragte er neugierig – Silieren hatten eine lange Lebensdauer. Nahezu unsterblich, verglichen mit einem Menschen. Entsprechend langsam alterten sie. Ein Prozess, der bereits das Wachstum beeinflusste. Der Junge sah aus wie 13, maximal 14 Jahre. Doch das mochte täuschen, wenn der Hauptmann recht hatte und dieser Kerl schon bei der Schlacht um Zenon dabei gewesen war.
„Damals war er 15. Dann ist er jetzt 24. Zumindest, wenn man unsere Zeitrechnung dazu heranzieht."
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Die Raben des Königs
FantasiaAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...