„Majestät!", sagte Eric und Taos hob alarmiert den Kopf. Einen Wimpernschlag später entdeckte er sie. Sie trug eine viel zu große Jacke am Leib, sonst nichts. Ihr Gesicht war fleckig von Ruß und Tränen, doch ihre Augen leuchteten, als sie auf ihn zu gerannt kam. Mit Schwung stürzte sie in seine Arme und Taos drückte sie an sich.
„Aurora", hauchte er und küsste sie auf die staubige Wange. „Dem Himmel sei Dank, es geht dir gut!"
Doch Aurora verkroch sich an seiner Schulter, krallte die Hände in sein Hemd und schluchzte auf. Taos strich ihr tröstend über den Rücken und blickte auf. Gorjak und Effi luden gerade zwei Körper auf einem behelfsmäßigem Lager ab, das für neue Verwundete vorbereitet worden war, da sprang neben ihm plötzlich Sukan auf. Der Siliere war seiner Tochter nicht von der Seite gewichen, die erschöpft, aber unversehrt auf einem Lager neben Aric und Anna lag.
„Koshy-Naan", presste der Mann hervor und stolperte auf Effi zu. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, schien etwas zu sagen, während der Siliere neben Koshy niedersank und seine Hand ergriff. Gorjaks Blick schweifte suchend durch den Raum, dann rief er laut nach Oliver. Der Magier hob den Kopf, unterbrach für einen Moment die Arbeit an einem verwundeten Soldaten.
„Oliver, hilf ihm. Schnell!"
Erst jetzt erkannte Taos das blasse Gesicht neben Koshys. Sein Herz sank.
„Sam", bemerkte Jack bestürzt.
Taos hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.
„Was ist passiert?", fragte er Gorjak, als dieser sich von Sams Lager erhob, um dem Heiler Platz zu machen.
Der Krieger musterte ihn einen Moment, dann fiel sein Blick auf Aurora. Er zögerte.
„Ein brennendes Haus ist über ihm eingestürzt. Und Koshy ist in eine Erdspalte gefallen und hat sich wohl den Kopf verletzt", antwortete Effi an seiner Stelle. Doch Gorjaks Blick ruhte noch immer auf dem Mädchen und Taos konnte ihm ansehen, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Er sah wie Olivers heilende Hände über den Jungen flogen und sein Magen rebellierte. Es war noch nicht lange her, dass er selbst schlimme Verbrennungen erlitten hatte, er erinnerte sich an die grauenhaften Schmerzen. Doch die Wunden des Jungen waren... ihm fehlten die Worte. Wie war es möglich, dass er überhaupt noch lebte?
Um sie herum bebte die Erde, Staub rieselte von der Decke und bedeckte die Verletzten vor ihnen. Oliver fluchte, Wasser erhob sich aus einem Krug neben ihm und wusch sanft den Schmutz von den Verbrennungen fort.
„Ich brauche mehr Wasser!", befahl er niemand bestimmtem, doch Sukan sprang sofort auf und nahm den leeren Krug mit sich. Er wurde von einer jungen Frau aufgehalten, die ihm bestimmt eine Hand auf die Brust drückte und ihm den Krug aus den Fingern schälte.
„Ich kümmere mich darum", erklärte sie schlicht und ging mitsamt dem Krug davon. Sukan starrte ihr verwirrt nach.
„Mach dir nichts draus, Sukan. Henna weiß, was sie will", grinste Gorjak müde. Der Siliere runzelte nur die Stirn, doch da war Henna auch schon wieder zurück und stellte den Krug an Sams Lager. Sie ließ sich am Kopfende nieder und strich ihm mit bebenden Fingern eine Strähne aus der Stirn. Dann gab sie ihm einen sanften Kuss.
„Ich bin hier Sam. Gib nicht auf, hörst du? Ich bin da."
„Dein jüngster Rekrut ist in den besten Händen, Majestät", bemerkte Gorjak und lächelte Henna warm zu. Sie erwiderte es dankbar, dann glitt ihre Aufmerksamkeit zurück zu Sam.
Aurora regte sich an seiner Schulter und Taos sah sie an.
„Mami?", piepste sie.
Er unterdrückte einen Fluch, doch es war zu spät. Aurora hatte ihre Eltern entdeckt.
„Mami! Papa!", schrie sie laut und begann zu glühen. Taos ließ sie fluchend fallen. Aber sie schlug nicht am Boden auf. Taos konnte nur noch herumwirbeln und zusehen, wie ein Feuerball durch die Halle schoss, geradewegs auf Annas Lager zu.
Als Aric durch die Tür trat, schlug ihm Chaos entgegen. Ein Sturm aus Licht und Dunkel, aus Energie, aus Bildern und Tönen, Farben – und Schwärze. Er holte überrascht Luft. Wie lange war er hinter dieser Tür verschwunden gewesen, dass sich Annas Zustand so sehr verschlimmert hatte?
Die fremde Macht in ihm regte sich, pochte gegen seine Schläfen. Und getrieben von ihrer Stärke machte er den ersten Schritt hinein in den Sturm.
Es riss ihn beinahe von den Füßen. Aric hielt die Arme schützend vors Gesicht und setzte den nächsten Schritt. Das Chaos zerrte an ihm, versuchte ihn auseinanderzureißen, Kälte ließ seine Sinne gefrieren. Aric schrie dagegen an und arbeitete sich Stück für Stück weiter. Schon nach kurzer Zeit begann der Sturm ihm die Haut von den Knochen zu schälen und an seiner Seele zu zerren, dass ihm bald nichts anderes mehr übrigblieb, als sich zusammenzukauern und auf allen Vieren weiterzukriechen. Schmerzen jagten durch seinen Verstand, doch anders als beim ersten Mal, als er sich Annas Essenz genähert hatte, nahmen sie kein Ende, löschten ihn nicht aus. Aric schluchzte und schrie, doch seine Tränen wurden fortgerissen, sein Schrei blieb ungehört in dem Rauschen des Sturms. Aric fühlte sich nackt, geschunden, blutend. Wie oft würde er sich noch selbst zerstören, um Anna zu retten? Er wusste es nicht. Aber er würde es solange tun, bis er nicht wieder aufstehen konnte.
Nach einer Weile merkte er plötzlich, dass sich etwas verändert hatte. Der Sturm ließ nach, der Widerstand gegen seinen Geist schwand. Es wurde wärmer. Aric hob den Blick, seine brennenden Augen brauchten einen Moment sich zu fokussieren. Doch dann sah er sie. Mitten im Auge des Sturms. Sie saß am Boden, den Kopf zwischen den Knien, die Hände in den zerrauften Haaren. Sie zitterte am ganzen Leib und als Aric näherkam, sah er Kratzspuren auf dem nackten Körper. Ihr Atem ging rasch und keuchend und immer wieder entwich ihr ein herzzerreißendes Wimmern. Aric kroch zu ihr und ließ sich vor ihr nieder.
„Anna!", rief er gegen den Lärm an. Er griff nach ihren Händen, zuckte zurück, als er das Blut an den Fingerspitzen sah.
„Anna!", rief er erneut. „Bitte komm zu dir. Rede mit mir! Anna, sieh mich an!"
Noch einmal hob er die Hand, legte sie auf ihren Arm und zog ihn sanft zu sich.
Anna schrie auf, entwand sich seinem Griff, taumelte, fiel und kauerte sich erneut zusammen. Aric sah sie an, sein Herz hatte keine Worte mehr. Ihre Schmerzen ließen seine Seele bluten. Wieder rückte er näher.
„Anna", sagte er diesmal ruhiger. „Sieh mich an."
Behutsam strich er ihr über die Arme, übers Haar, versuchte sie zu beruhigen.
„Sieh mich an, Anna."
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Die Raben des Königs
FantasyAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...