Kapitel 20

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Anna schlug die Augen auf. Noch immer quälten sie unbeschreibliche Schmerzen. Noch immer rissen die Mächte an ihrer Seele. Anna unterdrückte die Tränen, so viel Mühe kostete es sie, das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten.

„Mami?", hörte sie eine Stimme direkt neben sich. Auroras kleines Gesicht schob sich in ihr Blickfeld.

„Sei vorsichtig, Aurora. Deine Mutter darf sich nicht ablenken", mahnte Saronn irgendwo hinter dem Mädchen. Seine Stimme war voller Sorge.
Doch Anna hatte keine Zeit für Vorsicht.

„Die Quelle, Saronn! Schütze... die Quelle!"

„Der Schild ist aktiv. Niemand kann hier eindringen", erwiderte Saronn beruhigend, doch Anna schüttelte den Kopf.

„Der Schild besteht aus reinster Energie. Der Herr des Nichts kann sie verschlingen und unser Schutz würde sich gegen uns wenden."

„Was willst du, das ich tue?", fragte Saronn zurück.

„Du weißt, was ich will."

„Wenn ich das tue, Anna, dann wird das Gleichgewicht noch weiter zusammenfallen. Du wirst keine Chance mehr haben es aufrecht zu erhalten. Wie stellst du dir das vor?"

„Es wird so oder so soweit kommen. Und lieber so, als dass der Herr des Nichts es unwiderruflich zerstört."

„Wenn ich die Quelle versiegle, wird das die Welt aus den Fugen reißen."

„Tu es!", war alles, was sie noch sagte, bevor sie sich wieder in den Energien verlor, die ihr Innerstes zerfetzten.

Saronn starrte sie an. Furcht legte sich über ihn wie ein bedrohlicher Schatten. Er wusste, worum sie ihn bat. Nie in all den Jahrtausenden seiner Existenz hätte er sich träumen lassen, dass dieser Augenblick Wirklichkeit werden würde. Doch Anna übertrieb nicht. Er konnte es selbst spüren, eine Dringlichkeit, die ihren Ursprung nicht in seinem eigenen Herzen hatte, auch nicht in dem des Serafin. Nein, es war eine Warnung – eine Warnung des Feuers an seinen Wächter. Die Zeit war gekommen.

Saronn warf einen Blick auf das weinende Mädchen und die stöhnende Frau und seine Miene verschloss sich. Sein Mund wurde zu einer harten Linie, als er Aurora auf die Füße zog und Anna in seine Arme nahm.

„Komm mit", befahl er streng. Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu und Aurora war viel zu verstört, um Fragen zu stellen. Sie folgte ihm blind hinaus in den Flur, die Treppen hinab in die Halle, durch das Tor hinaus, über die Brücke. Die Erde unter seinen Füßen bebte leicht, als er den Serafin darauf niederließ.

„Warte hier", befahl er Aurora und wandte sich zu den Stallungen.

Als er mit einem gesattelten und ausgerüsteten Pferd zurückkehrte, sah Aurora ihn mit großen Augen an. Saronn hievte sie in den Sattel und lächelte ihr aufmunternd zu. Dann beugte er sich zum Serafin hinab.

„Anna?", fragte er und sofort schlug sie die Augen auf. Sie erfasste ihre Umgebung, das Mädchen auf dem Pferd und den entschlossenen Blick in seinen Augen und verstand. Trauer verschleierte ihren Blick, doch ihre Stimme blieb fest.

„Zögere nicht", ermahnte sie ihn.

Er strich ihr über die feuchte Wange, die blassen Lippen formten ein schwaches Lächeln. Er erwiderte es, nahm sie hoch und half ihr hinter Aurora in den Sattel. Sie schwankte gefährlich, doch ihre Arme legten sich um das Kind und die zitternden Finger griffen nach den Zügeln. Saronn schenkte ihr einen letzten Blick.

„Pass auf dich auf!", sagte er und sie nickte ernst.

Dann wandte er sich Aurora zu, die ihn mit großen Augen anstarrte.

„Dein Feuer ist das schönste, was ich in meinem langen Leben sehen durfte, Aurora. Halte es gut fest!"

Dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange und wandte sich dem Schloss zu.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt