Kapitel 56

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Anna wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch sie konnte kaum noch die Augen offenhalten. Sie war so unendlich erschöpft, die Magie riss an ihren Fesseln und zerrte unnachgiebig an ihren Kräften. Und zu alledem war da Adalor, der über ihr arbeitete wie ein Arzt an seinem Patienten. Nur, dass er sie, statt zu heilen, immer weiter auseinanderzunehmen schien. In ihrer Brust steckte eine feingliedrige Klinge, die sich an ihrer Spitze teilte. Anna kannte sie, hatte sie zuvor gesehen, in einem fast vergessenen Traum, in dem der Priester sie Raash in die Brust getrieben hatte.

Der Priester war Raashs Toran, klangen die Worte des Erdlings in ihren Ohren. Er hat ihm geholfen...

Sie konnte diese Wahrheit noch immer nicht fassen. Raash war in den Tod gegangen – wofür? Um die Seele des verdammten Königs zu befreien? Das ergab keinen Sinn.

Adalors Hände fuhren über ihren Rumpf und sie stöhnte auf. Die Schmerzen waren zu einem Lied in ihren Adern geworden, sie konnte kaum noch klar denken. Doch der Besuch des Erdlings hämmerte durch ihren Verstand.

Um die Seele zu befreien, die das Gleichgewicht zu Fall bringen würde.

Anna versuchte es zu begreifen, doch ihr Geist scheiterte, scheiterte an der Überanstrengung, an den Schmerzen, an der unendlichen Erschöpfung. Sie schloss die Augen, doch sofort war Adalor über ihr und erzwang ihre Aufmerksamkeit.

„Nicht einschlafen", befahl er streng, tippte gegen die Klingen in ihrer Brust und Anna schrie auf.

„So ist es besser", murmelte er nur und fuhr fort mit dem, was auch immer er gerade tat. Sie war zu vereinnahmt von ihrer gegenwärtigen Lage, um es überhaupt richtig wahrzunehmen.

Ich bin Lorch, Wächter deiner Seele.

Sie wusste diese Worte bedeuteten etwas. Doch sie konnte sie nicht fassen. Jedes Mal, wenn sie es versuchte, stieß ihr Geist gegen die verschlossene Tür. Anna starrte darauf, während ihre Gedanken im Nebel verschwanden. Warum war sie hier? Sie wusste es nicht mehr. Also wandte sie sich ab und versuchte sich auf ihre aktuelle Lage zu konzentrieren.

Plötzlich zog etwas an ihr und Schmerz, so unendlich, so schneidend, so unerträglich, zerstörte jedes bisschen Verstand, das sie sich bewahrt hatte. Anna wollte schreien, doch dafür fehlte ihr die Luft. Der Schmerz nahm zu, ebenso der Druck auf ihrer Brust. Etwas riss...

„Adalor! Der Rat verlangt eure Aufmerksamkeit. Sofort!"

„Ich bin beschäftigt."

„Wenn Ihr nicht zu ihnen geht, werden sie zu Euch kommen."

Ein Schnauben, ein Rascheln und plötzlich ließ der Druck nach. Der Schmerz flaute ab und Anna schluchzte auf. Sie wollte die Arme um ihre Brust schlingen aus dem tiefen Instinkt heraus zu schützen, was darin war, doch ihre Hände waren an die Bank gefesselt, auf der sie lag. Heiße Tränen rannen ihr übers Gesicht und sie blinzelte in die Dunkelheit. Einatmen. Ausatmen. Einatmen...

„Du musst hier weg, bevor Adalor zurückkommt. Bei allen Heiligen, er war schon fast soweit."

Jemand machte sich an ihren Händen zu schaffen, dann tasteten sanfte Finger über ihre Brust.

„Das könnte jetzt kurz wehtun."

Wieder riss etwas an ihr, doch es war mehr Erleichterung als Schmerz. Anna stöhnte und öffnete die Augen. Neben ihr stand eine junge Frau, ihr schwarzes Haar fiel ihr über die schmalen Schultern als sie sich prüfend über sie beugte. Annas Blick traf ihren: dunkle schwarze Abgründe in einem fein gemeißelten blassen Gesicht. Etwas seltsam Vertrautes ging von ihr aus. Auf den schmalen Lippen erschien ein angespanntes Lächeln.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt