Kapitel 63

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Nachdem Aric auf seinem Ritt nach Zenon von Annas Präsenz in seinem Geist schmerzhaft überrascht worden war, hatte er keine Zeit verschwendet. Er hatte kaum die Stadt betreten und den kurzen Aufenthalt dazu genutzt seinem Kriegerkameraden zu danken, der nun an seiner Statt mit Finja nach Ibna reisen würde. Aric hatte kein besonders gutes Gefühl dabei, aber ungewöhnliche Zeiten forderten ungewöhnliche Wege. Alec, der nun seine Gesichtszüge trug, hatte die Aufgabe als Ehre angesehen. Aric sah das anders. Trotzdem war er dem Mann mehr als dankbar.

Seit er die Stadt verlassen hatte, trieben ihn aber andere Sorgen um. Nie in all der Zeit, seit sie sich kannten, war Anna in seinen Geist eingedrungen. Es war eine stille Abmachung zwischen ihnen, die mitunter Arics Privatsphäre schützte – zumindest so viel er davon haben konnte. Abgesehen davon war es äußerst schmerzhaft, da Aric durch sein magisches Blut gegen ein solches Eindringen gefeit war. Dass Anna es trotzdem getan hatte, bedeutete, dass sie keine andere Möglichkeit gesehen hatte. Und das wiederrum beunruhigte ihn mehr als er sich eingestehen wollte. Trotz seinen Gesprächen mit Nort, die ebenfalls auf einer geistigen Ebene abliefen, hatte Aric in der Kommunikation von Geist zu Geist keinerlei Übung. Zumindest nicht in dieser Art. Nort hatte eine Verbindung zu seiner Seele, das war etwas völlig anderes. Doch Annas Präsenz war ein Fremdkörper, der sich durch seine Gedanken gewühlt hatte wie ein Jagdmesser durch die Innereien eines Orkebers. Aric wusste nicht, was sie gesucht hatte, und sie hatte ihm keinerlei Hinweis oder Nachricht hinterlassen.

Also war er tagelang durchgeritten, hatte nur kurze Pausen gemacht, um Boran zu schonen und war so schnell wie möglich wieder aufgebrochen. Am frühen Abend hatte dann das Beben eingesetzt. Aric hatte so lange Annas Stimmungen in den Elementen gelesen, dass ihn ihre Signatur geradezu ansprang. Und in diesem Moment war sie geladen und voller Wut. Er trieb sein Pferd zum Unmöglichen und galoppierte die Nacht durch, dem Zentrum des Bebens hinterher. Sie war nah, er konnte es spüren...

Zwar klang das Beben nach einiger Zeit wieder ab, aber je näher er dem Gruven-Moor kam, desto deutlicher wurden die Verwüstungen, die es hinterlassen hatte. Kurz bevor er Fuß auf den morastigen Untergrund setzen konnte, begegnete er Marvin. Der Gardist sah ihn mit großen Augen an.

„Hauptmann? Ihr wart schnell!"

„Marvin, ich hatte erwartet, dass ihr schon weiter seid", erwiderte er nur. Marvin nickte.

„Das Moor hat uns aufgehalten, den Göttern sei Dank. Hätten wir einen Vorstoß gewagt, wären wir mitten in das Beben geraten. Sein Epizentrum muss irgendwo in dem Sumpf gelegen haben. Doch wir wollten das Risiko nicht eingehen und lieber einen Weg außenherum suchen. Ich komme gerade von meinem Kundschafterritt zurück. Die Gruppe rastet seit gestern Nachmittag ganz in der Nähe. Die Pause hat seiner Majestät ebenfalls gutgetan. Seine Wunden schwächen ihn sehr."

„Das war zu erwarten", entgegnete Aric abwesend und sein Blick glitt zurück zum Moor.

„Ihr hattet doch nicht vor, da hineinzureiten?", fragte Marvin, als er den Blick bemerkte.
Aric runzelte die Stirn.

„Genau das ist meine Absicht. Und mehr noch: Du wirst mich begleiten. Aber vorher sehen wir im Lager nach dem Rechten. Ich muss mit meiner Tochter sprechen."

Als sie sich dem Lager näherten, machte Marvin sich leise bemerkbar. Sofort trat vor ihnen Jack aus den Schatten und begrüßte sie mit offensichtlicher Erleichterung.

„Wir hatten befürchtet, du könntest in das Beben geraten sein, Marv", sagte er und sah dann etwas unbehaglich zu Aric auf.

„Wie geht es Aurora", fragte Aric, um ihm die Sache zu erleichtern. Er konnte sich bereits denken, worum es ging.

„Bis zum Abend war alles in Ordnung. Aber das Beben hat ihr furchtbare Angst eingejagt. Sie hat geweint und nach ihrer Mutter geschrien. Wir konnten sie kaum bändigen. Es hat sehr lange gedauert, bis sie endlich eingeschlafen ist."

„Feuer?", hakte Aric nach.

„Ein paar Funken. Aber im Großen und Ganzen hatte sie es unter Kontrolle."

Aric nickte erleichtert. Zumindest war sie nicht blind ins Moor gerannt, um nach ihrer Mutter zu suchen. Denn er war sich fast sicher, dass auch Aurora gespürt hatte, wer dieses Beben heraufbeschworen hatte.

Aurora schlief noch, als er mit Marvin das Lager betrat. Der König ebenso. Aric nickte Efraim zu, der am Feuer Wache hielt und näherte sich seiner Tochter.

„Aura?", weckte er sie sanft.

Das Mädchen rieb sich verschlafen die Augen, doch als sie ihn erkannte, war sie schlagartig hellwach.

„Papa!", rief sie und warf sich ihm in die Arme. „Papa, Mama ist hier. Ich konnte sie hören!"

Aric strich ihr liebevoll über den Rücken.

„Ich weiß. Ich auch."

„Werden wir sie suchen?"

„Ja", lächelte er seine Tochter an. Und an Efraim gewandt sagte er: „Weck die anderen, packt zusammen. Wir brechen sofort auf."

Efraim erhob sich.

„Hast du einen Weg um den Sumpf gefunden, Marvin?"

„Ja, aber das ist nicht mehr relevant", erwiderte der Gardist leise. Efraim hielt in der Bewegung inne und sah ihn überrascht an. Marvin zuckte nur die Schultern.

„Der Hauptmann führt uns durchs Moor."

„Majestät, aufwachen!", brummte Aric und ließ sich neben Taos nieder. Der König blinzelte erschöpft, dann sah er ihn überrascht an. Aric grinste.

„Na, gut geschlafen, alter Freund? Es ist Zeit aufzubrechen."

Taos richtete sich mit einem tiefen Seufzen auf.

„Du bist und bleibst ein Sklaventreiber", beschwerte er sich. „Die Sonne ist noch nicht mal aufgegangen."

„Wir haben es eilig. Sag, wie fühlst du dich? Schaffst du einen anstrengenden Ritt durch den Morast dieses Sumpfes?", fragte Aric nur und Taos runzelte die Stirn.

„Du willst durch den Sumpf? Das Risiko..."

„... ist annehmbar. Ja, ich will durch den Sumpf. Und zwar am besten gestern schon. Während des Bebens. Also hoch mit dem königlichen Hintern!"

Er reichte seinem König die Hand, die dieser nach einem kurzen Augenblick annahm und sich auf die Beine ziehen ließ.

„Während des Bebens? Denkst du, was ich denke?", hakte er nach. Aric nickte ernst.

„Sie ist da drin. Ich fress nen Besen, wenn nicht", erwiderte er.

Taos Blick glitt nachdenklich zu dem Sumpf.

„Bitte sag mir, dass wir nicht alle beim Versuch sie zu finden draufgehen."

Arics Augenbrauen zuckten.

„Ob du die Tortour überleben wirst, kann ich nicht sagen. Der Rest wird zumindest weder ertrinken noch sich verirren."

Taos grinste.

„Worauf warten wir dann noch?", schob er hinterher, was Aric mit einem Augenrollen quittierte, nach Boran pfiff und zum Rand des Moores ritt. Die Gruppe folgte ihm nur kurze Zeit später.

Aric warf einen abschätzenden Blick über das Moor, dann saß er ab und zog Stiefel und Strümpfe aus.

„Bitte sag mir, dass wir nicht barfuß da durch müssen?", bemerkte Taos, der sein Pferd neben ihn gelenkt hatte und ihm neugierig zusah. Aric schnaubte, band seine Stiefel zusammen und warf sie über Borans Rücken.

„Ihr nicht. Ich schon. Und jetzt Ruhe, ich muss mich konzentrieren!"

Taos runzelte die Stirn, sagte aber nichts mehr.

Aric machte ein paar Schritte in den feuchten Morast und schloss für einen Moment die Augen. Das Lied der Erde brachte den Boden unter seinen Füßen zum Schwingen und sandte ein Echo durch seine Adern. Er atmete tief durch und öffnete die Tür zu dem Teil seiner Selbst, der ein Erdling war. Er griff nicht gerne darauf zurück, warf es doch jedes Mal die hart antrainierte menschliche Fassade über den Haufen. Doch es half ihm wach zu bleiben, während andere schliefen, manchmal tage-, ja wochenlang. Es verlieh ihm übermenschliche Muskelkraft und schnellere Reflexe und zu guter Letzt gab es ihm einen unfehlbaren Orientierungssinn. Auf diesen griff er nun zu, ließ die Ströme der Erde unter seinen Füßen zu seinen eigenen werden, fühlte, atmete und schmeckte seine direkte Umgebung und machte den ersten Schritt.
„Folgt mir. Bleibt in meinen Spuren", war alles, was er sagte, dann marschierte er los, Boran an seiner Seite.

Niemand wagte sein Vorgehen zu kritisieren. Still fielen sie hinter ihm in die Reihe, allen voran Taos, dessen scharfen Blick er im Rücken spürte wie Finjas Pfeil. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt sich zu erklären. Konzentriert setzte er seinen Weg fort – mitten hinein ins Gruven-Moor.


Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt