Gorjak und Effi eilten schweigend durch die Straßen. Sie waren Lane zum Nordbunker gefolgt, der dem Schloss am nächsten lag und dort auf Kato gestoßen. Er hatte ihnen erklärt, er hätte Aurora zusammen mit Ferdale, Koshy und Sam am Westbunker zurückgelassen. Es war ein mühsamer Weg gewesen. Letzte feindliche Soldaten, die noch durch die Stadt streunten und teilweise verschüttete Straßen hatten es unmöglich gemacht schnell voranzukommen. Doch als sie den Bunker erreichten, hatte Ferdale sie nur mit gequältem Gesicht angesehen und dann zögernd erklärt, warum Sam und Koshy mit Aurora den Bunker verlassen hatten. Gorjak spürte seine Hände kaum noch, sein Herz pochte laut in seinen Ohren. Er verstand Sams Schlussfolgerungen. Die Logik dahinter war unbestreitbar. Aber die Tatsache, dass Aurora nun überall sein konnte, machte ihn wahnsinnig. Das Mädchen war eine tickende Bombe, keine Frage, aber sie war auch und vor allem ein Kind. Arics Kind, um genau zu sein. Er hatte geschworen sie zu beschützen. Der Gedanke, was sie in den letzten Stunden hatte durchstehen müssen, ließ seinen Magen rebellieren.
Ziellos liefen sie durch die Stadt, sprangen über die tiefen Abgründe, in denen schwarzes Nichts jegliches Licht verschlang, kletterten über eingestürzte Häuser und tote Körper. Effis Gesicht war leichenblass, doch Gorjak hatte im Moment keine Nerven, sich darum zu kümmern, wie es der jungen Gardistin ging, die noch nie den Krieg aus der Nähe gesehen hatte, geschweige denn eine Katastrophe von diesem Ausmaß. Alles, woran er denken konnte, war Aurora. Aurora, verschüttet von Trümmern, Aurora, verloren in den Tiefen dieser seltsamen Risse, die die Welt durchzogen, durchbohrt von einer Klinge... die Möglichkeiten waren endlos.
„Gorjak!", sagte Effi plötzlich und deutete nach Süden. Er hielt inne, folgte ihrem Fingerzeig und sein Herz setzte einen Schlag aus. Die Dunkelheit hatte es bisher verborgen, doch dort stieg Rauch auf und die Häuser darunter – sie waren ebenso zerstört, doch nicht durch das Beben. Der Stein war rabenschwarz, regelrecht geschmolzen, hier und da glühten noch die letzten Reste verkohlter Dachbalken. Gorjak rannte los, Effi auf seinen Fersen.
Am Eingang zur Straße blieben sie abrupt stehen. Er hörte Effi hinter sich nach Luft schnappen. Ihm selbst erging es nicht anders. Bis zur Unkenntlichkeit verbrannte und verkohlte Leichen lagen auf dem heißen Asphalt verstreut, letzte kleine Flammen züngelten hier und da und mitten in dieser schwarzen Trostlosigkeit saß Aurora und weinte. Ihre Kleider hatten das Inferno ebensowenig überlebt, ihr kleiner Körper war überzogen von schwarzem Ruß, graue Ascheflocken hatten sich auf ihrem Haar niedergelassen. Ihre Tränen verdampften zischend auf dem Pflaster unter ihr.
„Aurora", machte Gorjak sanft auf sich aufmerksam. Ihr Blick hob sich. Die verquollenen Augen blinzelten, an ihren Fingerspitzen tanzten Flammen. Gorjak machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, Hitze drang durch seine Stiefel, doch er ignorierte es für den Moment. Ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen, ging er vorwärts. Er versuchte die Toten nicht zu beachten. Noch nicht.
„Aurora", sagte er wieder. „Es ist gut, ich bin da." Er redete einfach weiter, versuchte sie zu beruhigen. „Du musst keine Angst haben, Effi und ich werden dir helfen. Es ist alles in Ordnung."
Er wusste, dass das nicht stimmte, nicht einmal annähernd, doch das tat nichts zur Sache. Aurora schniefte und ließ die Hände sinken, als er vor ihr in die Hocke ging. Das Glühen an ihren Fingerspitzen erlosch und vorsichtig griff er danach. Sie zuckte zusammen, doch er brummte beruhigend. Langsam wurde die Hitze an seinen Füßen unerträglich, er musste das Mädchen hier wegbringen und zwar schnell, wenn er noch in der Lage sein wollte zu laufen. Ihre Hand war warm, aber sie verbrannte ihn nicht. Immer noch beruhigend auf sie einredend, schlang er die Arme um sie und hob sie mit einem erleichterten Seufzen auf.
Effi stand noch immer am Rand des riesigen Brandflecks und schälte sich aus ihrer Jacke, als Gorjak Aurora neben ihr absetzte. Behutsam legte sie sie Aurora um die Schultern und sah Gorjak an. Er konnte es in ihren Augen lesen, die Angst und die Trauer, als ihr Blick weiterschweifte, zu den Leichen, die Aurora umringt hatten. Laut Ferdale hatten vier Krieger sie begleitet. Mit Sam und Koshy also sechs. Doch Gorjak zählte ein Dutzend Körper. Mit einem Stöhnen richtete er sich auf und schritt erneut auf den heißen Asphalt.
Effi zog Aurora in die Arme, während Gorjak die Leichen von der Straße zog. Sie konnte nichts Genaues erkennen, doch Gorjaks Blick wurde immer grimmiger. Er schien sich wegen Aurora zurückzuhalten, doch Effi konnte die Ungewissheit kaum ertragen. Plötzlich hörte sie ein Geräusch, ein leises Schaben, dann ein Stöhnen. Hatte sie es sich eingebildet? Nein, da war es wieder. Sie fuhr herum, Auroras tränennasses Gesicht hob sich von ihrer Schulter. Stumm zeigte sie auf das Haus hinter ihnen. Der Dachstuhl war verbrannt, die Mauern zur Straße hin eingestürzt. Effis Augen glitten suchend über die Trümmer.
„Gorjak!", rief sie und ließ sich neben Sams Körper nieder, der unter einem glühenden Balken und allerlei Schutt begraben lag. Sofort war der Krieger bei ihr. Ein Fluch entglitt ihm, als er den Schutt mit bloßen Händen fortzerrte. Aurora fing wieder an zu weinen. Effi setzte sie behutsam ab und half Gorjak den Balken zur Seite zu hieven. Seine Finger suchten nach einem Puls und er riss überrascht die Augen auf.
„Er lebt noch. Wir müssen ihn sofort zu Oliver schaffen."
„Was ist mit Koshy?", hauchte Effi, unsicher, wieviel sie vor dem Mädchen sagen sollte. Auch Gorjak hielt inne. Dann ging er vor dem Mädchen in die Knie.
„Aurora? Ich weiß, es ist schwer, aber kannst du dich erinnern, wo Koshy gestanden hat, als das Feuer losbrach?", fragte er behutsam. Sie blinzelte verstört, die Tränen rannen noch immer ungehindert über ihre Wangen. Doch dann drehte sie sich zu der Gasse um. Effi hielt den Atem an, als das Mädchen die Augen schloss und in sich hineinlauschte. Dann rannte sie unvermittelt los. Gorjak sprang fluchend auf und folgte ihr. Nicht weit von dem Ort, wo Aurora zu Beginn gesessen hatte, war die Erde aufgebrochen, ein langer Spalt, der sich weit in die Stadt hineinstreckte. An seinem Rand blieb das Mädchen stehen und deutete nach unten. Effi sank das Herz. Wenn der Siliere dort hinuntergefallen war... Gorjak beugte sich über die Kante.
„Effi! Komm her und hilf mir!"
Sie traute ihren Augen kaum, als sie neben ihm zum Stehen kam und in den Abgrund spähte. Dunkle Schatten waberten in der Tiefe, doch dort, keine zwei Meter unter ihnen, schob sich ein Vorsprung aus der Erde und darauf lag Koshy. Seine Kleidung war angesengt, aber nicht annähernd verbrannt, er schien fast unversehrt, doch er rührte sich nicht. Ohne Vorwarnung sprang Gorjak zu ihm hinunter und Effi schauderte unwillkürlich. Die Kälte, die aus der Tiefe stieg, raubte ihr den Atem und ließ sie frösteln. Gorjak ließ sich neben dem Silieren nieder und untersuchte ihn vorsichtig.
„Sieht aus als hätte er sich den Kopf gestoßen", drang seine Stimme zu ihnen herauf. Der Krieger zögerte nicht lange, sondern zog Koshy in die Höhe und hob ihn sich auf die Schultern.
„Zieh ihn hoch", forderte er Effi auf und stemmte den Körper noch weiter in die Höhe. Effi lehnte sich über den Abgrund, blendete ihre Angst aus und bekam den Hosenbund zu packen. Sie griff zu und zog, während Gorjak von unten nachhalf. Mit einem Ruck zog sie den Jungen über die Kante und ließ sich mit ihm fallen. Einen Moment später kletterte Gorjak aus dem Abgrund und hob den Verletzten auf.
Aurora lief neben ihm her zu dem Trümmerhaufen, an dem sie Sam zurückgelassen hatten, doch Effi brauchte noch einen Augenblick, um sich zu sammeln. Die Schwärze aus dem Abgrund griff nach ihr, vernebelte ihren Verstand, ließ ihr Herz vor Angst stolpern. Mit zitternden Knien erhob sie sich und entfernte sich von der bedrohlichen Dunkelheit.
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Die Raben des Königs
FantasyAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...