Kapitel 108

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Ein Grab unter ihren Füßen, Tränen verschleierten den Blick auf die in Stein gemeißelte Inschrift. Ihr Blut, ihr Herz, ihr ein und alles. Sie grub die Hände in die frische Erde und flüsterte tröstende Worte. Ihre Seelen würden zu ihr zurückfinden. Eines Tages. Hinter ihr erklangen sanfte Schritte im Gras.

„Was ist passiert?", fragte Adalor gepresst.

Sie drehte sich nicht zu ihm um, konnte es nicht.

„Er hat ihn umgebracht. Ihn und Erelor."

„Wer?"

„Mein Mann."

„Aret? Weshalb?"

„Sag du es mir", flüsterte sie erschöpft. „Sag mir, warum er es getan hat, Adalor? Woher kam diese Eifersucht? Dieser Hass? Aret war ein guter Mensch. Wann hat er aufgehört zu lieben, zu hegen, zu beschützen, und angefangen zu hassen und zu vernichten?"

Adalor schwieg. Sie schnaubte unter ihren Tränen.

„Hast du gar nichts dazu zu sagen?", fragte sie ihn.

„Was willst du hören, kleine Schwester. Dass ich es habe kommen sehen?"

„Wie lange? Wie lange weißt du es schon?", fragte sie müde.

„Als du mich in deiner Welt aufgenommen hast, hast du auch ihm die Tür geöffnet. Du wusstest, wie krank ich war, was hast du gedacht, würde passieren? Dass deine Welt mich heilt? Ja, sie ist jung und stark. Ich weiß, du hast es bekämpft, es klein gehalten. Ich dachte wir hätten mehr Zeit, dachte es würde länger dauern, aber mit deiner Heirat, deiner Nähe zu den Menschen hast du die Büchse der Pandora geöffnet. Du willst wissen, woher Arets Hass kam? Du hast ihn infiziert. Ihn und die Menschen. Ihre Seelen hatten keine Chance gegen diese Macht."

„Warum hast du mich nicht gewarnt?"

Adalor antwortete nicht.

Sie schluchzte auf, Tränen rannen über ihr kaltes Gesicht. War es überhaupt wichtig, was er sagte? Es war zu spät für ihren Sohn, zu spät für ihren Liebsten, Erelor, und auch zu spät für Aret. Zu spät. Die Schluchzer wurden heftiger, schüttelten sie regelrecht durch. Schmerz kroch quälend durch ihre Brust, füllte sie an, schnürte ihr die Kehle zu. Sie rang nach Luft. Die Finger krallten sich in die Erde, ihr Blick wurde starr. Ganz langsam verwandelte sich ihre Trauer, wurde zu etwas kaltem, brennendem. Wurde zu blankem, alles verzehrendem Hass, bemächtigte sich ihrer Sinne, griff nach ihrem Herzen, ihrem Verstand

Du hast das getan! Du allein!", schrie sie Adalor an. Sie hatte ihn aufgenommen, als seine eigene Welt gestorben war, hatte ihm ein neues Zuhause geschenkt, einen Körper, hatte ihm ein Volk geschaffen, das dem seiner Welt ähnelte. Doch er hatte sie verraten. Ihr eigener Bruder! Hatte die Krankheit, die seine Welt dahingerafft hatte, mitgebracht, hatte zugelassen, dass sie sich verbreitete, ihre Seele infizierte...

„Du hast mir die Zukunft genommen! Mir und meiner Welt!", schrie sie und stürzte zu Boden, ließ sich weinend auf das Grab vor ihr fallen, grub die Stirn in die Erde. Doch es gab keinen Trost, nein, denn ihr Herz schrie nach Vergeltung. Zitternd hob sie den Kopf.

„Ich werde dich..."

Weiter kam sie nicht, denn ein scharfer Schmerz zuckte durch ihre Mitte. Wie in Trance sah sie an sich hinab, auf die Klinge, die ihr aus der Brust ragte. Sie schmeckte Blut, ihre Macht begann sich zu regen. Da wurde sie nach hinten gerissen und eine weitere Klinge fand den Weg durch ihren Körper.

„Es tut mir leid, kleine Schwester", murmelte Adalor an ihrem Ohr und etwas legte sich über ihr Gesicht. Dann wurde ihre Welt dunkel.


Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt