„Schafft sie rein!", hörte sie den kalten Befehl in ihrem Rücken. Sie hasste diese Stimme. Sie wusste noch nicht einmal genau, weshalb, doch sie löste etwas in ihr aus. Etwas Glühendes – wie ein schlafender Drache, der träge die Augen öffnet und den Dieb in seinem Nest entdeckt.
Anna schauderte, als plötzlich Hände nach ihr griffen und sie von ihrem Karren zerrten. Sie konnte nichts sehen, doch der Geruch feuchter Erde schlug ihr entgegen und ließ sie unwillkürlich zusammenzucken. Erinnerungen stiegen in ihr auf, dunkel und schmerzhaft. Finger bedeckt mit blutigem Schlamm, eine Flucht durch den Wald, aufsteigender Nebel, dann riss sie sich zusammen. Doch die Stimme ließ sie nicht lange ruhen. Sie konnte das kalte Lächeln auf seinen Lippen hören, als er wieder zu ihr sprach.
„Du erinnerst dich, nicht wahr? Wir waren schon einmal hier, Serafin."
Sie erinnerte sich nicht. Nicht wirklich. Diese Bilder in ihr waren nicht ihre eigenen, sondern die eines Serafin vor ihrer Zeit. Und es gab nur einen Serafin vor ihr, der wirklich so genannt worden war: die schwarze Königin.
Es war ein Traum, ein immer wiederkehrender, der sie um den Schlaf brachte, seit sie ihre Kräfte entdeckt hatte. Der Albtraum des Serafin – ihr Fluch. Sie versuchte danach zu greifen, sich die Details in Erinnerung zu rufen, doch die Magie, die ununterbrochen durch sie hindurch donnerte zog an ihr, verlangte ihre ganze Aufmerksamkeit und ihr Herz stolperte bei dem Versuch die entgleisten Bahnen wieder zusammenzulegen. Sie stöhnte unter der Anstrengung, die es sie kostete. Schweiß trat ihr auf die Stirn und sie rang nach Atem.„Du verlierst die Kontrolle, ich kann es spüren", sagte die Stimme scharf.
Anna versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren und richtete ihren ganzen Fokus auf den Damm, den sie errichtet hatte, der die Mächte in seiner Bahn hielt. Der Damm, der durch diese kurze Unaufmerksamkeit bereits Risse bekommen hatte.
„Es war zu erwarten. Du wurdest nicht dafür geschaffen, die Elemente zu bändigen. Sie hätten dir niemals Zugang verschaffen dürfen. Deine Seele ist zu klein und zu schwach dafür. Aber keine Sorge, es wird wieder einfacher werden", tröstete die Stimme. Doch seine Worte beruhigten sie kaum. Im Gegenteil.
„Legt sie dort ab. Kettet sie an."
„Lord, die Ältesten werden darüber nicht erfreut sein."
„Die Ältesten haben sich gefälligst zu fügen. Sie wollen schließlich nicht ebenso fallen wie die Windlinge, oder irre ich mich da?"
„Natürlich nicht, Lord."
„Sag ihnen, ich löse das Problem. Wir sind kurz davor. Die alte Ordnung wird wiederhergestellt."
„Ja, Lord."
„Und jetzt raus mit euch."
Anna hörte sanfte Schritte, dann Stille.
„Furchtbares Ungeziefer dieses Erdenvolk", murmelte die Stimme und Anna verkrampfte sich, als sie ihn näherkommen hörte.
Eine Hand legte sich auf ihre Brust.
„Deine letzte Seele war so viel schöner, so leuchtend wie ein neugeborener Stern. Es war nie geplant, dass du dir eine neue erschaffst, Serafin. Deine Mutter war dumm, so dumm, sie in dir wachsen zu lassen. Damit hat sie diese Welt ins Wanken gebracht. Und wir wollen doch nicht die Ordnung zerstören, die uns alle am Leben erhält, nicht wahr? Auch du hast dazu kein Recht, Serafin."
Anna keuchte. Was er da sagte, rührte an etwas tief in ihr – einer Tür, wie ein Schemen im Nebel.
„Du hast keine Macht über mich", presste sie hervor.
„Was willst du tun, um mich aufzuhalten? Deine Macht ist gebunden. Du kannst nicht gegen mich kämpfen und gleichzeitig das Gleichgewicht aufrechterhalten. Dazu fehlt dir die Kraft. Du bist schwach, Serafin, so schwach. Was willst du tun? Um Hilfe rufen? Hier unten kann dich niemand hören. Nur die Erde selbst. Und sie ist es schließlich, die dein Gefängnis gebaut hat, nicht wahr?"
Kalte Erde an blutenden Fingern... Anna grub sich durch den Nebel, bis die Tür vor ihr erneut Gestalt annahm. Wieso hatte sie sie zuvor nie wahrgenommen? Vorsichtig näherte sie sich und betrachtete dieses etwas in ihrem Geist. Was war es? Oder vielmehr: Was lag dahinter? Versuchsweise rüttelte sie daran und stöhnte auf, als sich die Tür ihr stumm widersetzte. Ihre Weigerung fuhr durch ihren Geist wie ein Messer und plötzlich wirkte die Tür wie eine Festung – eine Festung mit scharfen Geschützen zur Verteidigung. Anna presste sich erneut dagegen, warf all ihre Kraft in den Versuch, bis der Schmerz ihr beinahe den Atem raubte. Schweiß brach ihr aus und lief ihren Rücken hinab, über ihren Bauch, sammelte sich in ihrem Bauchnabel, während sie krampfhaft versuchte nicht die Kontrolle zu verlieren. Doch die Tür blieb verschlossen, ja verriegelt und versiegelt und drohte erneut im Nebel zu verschwinden.
Mit der untrüglichen Gewissheit, dass es nichts Wichtigeres gab, als dieses Geheimnis zu lüften, lief sie ihr nach, grub sich durch den Nebel und versuchte sie im Auge zu behalten. Doch die Tür entzog sich ihr immer wieder aufs Neue. Kalte Angst überfiel sie und ließ sie nicht mehr los und als die Tür langsam verblasste, wurde sie regelrecht panisch – als würde ihr Leben davon abhängen und sie wusste nicht weshalb. Frustriert ballte sie die Fäuste und schrie. Sie schrie ihren Schmerz hinaus, ihre Angst, schrie gegen den Nebel und gegen diese unsichtbare Tür an, die ihr den Zugang zu einer unaussprechlichen Wahrheit versagten – und ja, sie schrie um Hilfe. Sie ließ den Magiestrom ihrer Kontrolle entweichen und warf sich mitten hinein. Sie spürte, wie er entgleiste, wie er alles mit sich riss, wie der Damm brach, wie das Gleichgewicht kippte. Es war egal. Ihr Geist raste hinaus in die Welt, ließ sich treiben von den Wellen des Sturms, sprang über sie hinweg bis zu jenem kleinen Leuchten, das sie auch blind in dunkelster Nacht finden würde. Den kleinen Splitter ihrer selbst, den sie einem unscheinbaren Raben vermacht hatte. Sie brandete gegen ihn wie eine Sturmflut und einen Moment später waren sie eins, der Vogel nur noch ein Schatten in einem Winkel ihres Geistes.
Sie spürte, wie die Grenzen der Welt zerflossen, spürte wie es sie hinfort riss. Die Zeit lief ihr davon. Doch dann sah sie ihn. Seine Stärke strahlte ihr entgegen und trotz ihrer Verzweiflung musste sie unwillkürlich lächeln. Aric war nicht so leicht zu erschüttern. Er starrte ihr in die Augen und sie starrte zurück. Dann spürte sie, wie etwas in ihr zerriss. Ihre Brust explodierte unter sengenden Schmerzen und diese Stimme...
Anna fixierte Aric und hauchte einen Namen. Sie würde nicht aufgeben, nicht heute. Sie wollte noch mehr sagen, doch im nächsten Moment war sie zurück in ihrem Körper und die kalte Stimme zischte in ihr Ohr.
„Reiß dich zusammen Serafin! Oder willst du wirklich ganz allein für den Untergang der Welt verantwortlich sein? Stabilisier sofort das Gleichgewicht, oder ich schwöre ich lasse es dich bis in alle Ewigkeit bereuen."
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Die Raben des Königs
FantasyAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...