Sam war nicht der Einzige, der in dieser Nacht keinen Schlaf fand. Taos starrte seit einer Ewigkeit in die Flammen, die wie durch ein Wunder wieder in seinem Kamin tanzten. Flammen, die seine Enkeltochter zu ihnen ins Schloss gebracht hatte. Seine Ekeltochter. Taos schluckte den Kloß, der ihm die Kehle zuschnürte, doch das Gefühl von Verrat ließ sich nicht vertreiben. Er trauerte noch immer um die Jahre, die er bei seiner Tochter verpasst hatte, während er unwissend in diesem Kerker unter der Burg vor sich hin vegetiert hatte. Jahre, die für immer verloren waren, Jahre, in denen sie aufgewachsen war, laufen gelernt hatte, sprechen gelernt hatte, ihre Magie entdeckt hatte. Sie hatte geweint und geliebt, hatte Zorn und Enttäuschung und Angst aber auch Freundschaft erfahren, war von Zuhause weggelaufen, hatte auf der Straße gelebt, gehungert und gefroren um letztendlich den Weg eines Kriegers einzuschlagen. Ein Weg, der sie am Ende zu ihm geführt hatte. Eine erwachsene Frau, eine Fremde.
Und nun musste er erfahren, dass sie ihm diesen Schmerz erneut zufügte. Sie hatte ihm seine Enkeltochter vorenthalten, dieses zarte wundervolle und beängstigende Geschöpf aus Feuer, das beinahe sein Schloss abgebrannt hätte. Sie war acht Jahre alt. Acht verlorene Jahre.
Taos unterdrückte die Tränen und schluckte seine Wut und Enttäuschung hinunter. Er konnte Arics Zurückhaltung zu einem gewissen Grad verstehen, obwohl sie ihn traurig machte, um Arics Willen. Doch Annas Schweigen ließ ihn sprachlos zurück. Sie war seine Familie. Sie und dieses kleine Mädchen. Und er hatte seit der Schlacht von Zenon nichts mehr von ihr gehört. Schnaubend dachte er an jenen Tag zurück, als seine Tochter im Nichts verschwunden war und die Magier versucht hatten das Tor zu schließen, um die Stadt vor dem Untergang zu bewahren. Damals hätte er es bereits sehen können, hätte er begreifen müssen, dass Aric und seine Tochter mehr verband als nur Mentor und Schülerin. Er hatte gesehen, wie Aric sich über die Brüstung geworfen hatte, um die Magier aufzuhalten. Hätte Gorjak ihn damals nicht aufgehalten, er wäre blind in den Tod gerannt. Zu Anna.
Doch seine Tochter war aus dem Nichts zurückgekehrt... und hatte sich von ihnen allen abgewandt. Auch von Aric, wurde Taos plötzlich bewusst und er fragte sich, was seine Tochter wohl für den ehemaligen Krieger empfand. Ob sie überhaupt etwas empfand. Er verstand sie nicht, diese Macht und das, was sie aus seiner Tochter machte. Den Serafin.
Seufzend strich er sich die wirren Haare aus der Stirn und richtete sich auf. Es war an der Zeit sich um die Probleme zu kümmern, auf die er auch Einfluss hatte.
Eric und Efraim folgten ihm wortlos, als er seine Gemächer verließ. Taos ignorierte sie und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Erst als er am Eingang zu den Verliesen angekommen war und die Wache ihm respektvoll zunickte, drehte er sich zu seinen Raben um.
„Wartet hier", befahl er knapp, aber in einem Ton, der keine Widerworte zuließ. Eric sah wenig begeistert aus, aber er gehorchte ebenso wie Efraim. Die Wachen machten ihm den Weg frei und Taos atmete tief ein, bevor er durch die Tür und hinab in die Dunkelheit schritt. Das letzte Mal, als er hier gewesen war, war er ein Gefangener gewesen und diese Treppen hatte er zum letzten Mal vor fast dreißig Jahren beschritten. Damals, als sein Vater ihn in den dunklen Kerker gestoßen hatte. Taos spürte, wie ihm kalte Schauer über den Rücken liefen und je tiefer er hinabstieg, desto übler wurde ihm. Bis er irgendwann vor seiner Zelle stand. Unter der Tür flackerte ein fades Licht. Es war nicht so, dass er explizit befohlen hatte, Finja in genau diese Zelle zu stecken, aber es war offensichtlich die Einzige, die noch ausreichend instand war, überhaupt einen Gefangenen zu beherbergen. Taos kämpfte gegen das Zittern in seinen Händen, als er die Hand an den Riegel legte. Einen Moment rührte er sich nicht. Erinnerungen stürzten auf ihn ein, Erinnerungen an Jahre der Einsamkeit, der Verzweiflung, der... Taos stöhnte und schloss die Augen. Sein Herz raste, sein Atem ging flach. Hinter der Tür hörte er es leise rascheln. Er trat einen Schritt zurück. Noch konnte er umdrehen. Niemand würde es je erfahren. Doch tief in sich spürte er, dass er das hier tun musste. Nicht für Finja, der hinter der Tür saß, sondern für sich selbst. Um die Gespenster zu bekämpfen, die ihn Nacht für Nacht heimsuchten. Vielleicht war es Schicksal, dass sie Finja ausgerechnet in seine alte Zelle gesteckt hatten. Taos atmete tief durch, schluckte die Galle, die ihm in den Hals gestiegen war und schob den Riegel zurück. Dann trat er in die Zelle.
DU LIEST GERADE
Die Raben des Königs
FantasíaAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...