Der Rabe landete neben Gorjak auf der Brüstung noch bevor er Aric näherkommen hörte. Schweigend trat der Hauptmann der Garde neben ihn und folgte seinem Blick hinaus in den Regen.
„Hast du die Rekruten abgewiesen, um Taos einen Standpunkt klar zu machen oder wolltest du ihn einfach nur ärgern?", fragte er den Mann in Schwarz, der gedankenverloren über das Gefieder des Raben strich. Aric zuckte die Schultern.
„Sie waren nicht gut genug", bemerkte er nur und Gorjak musterte ihn von der Seite.
„Das heißt nicht, dass man keine guten Gardisten aus ihnen hätte machen können. Ich habe zugesehen. Drei oder vier hatten durchaus Potential."
„Du weißt, dass das nicht reicht."
Gorjak wusste es. Taos' Sicherheit stand an allererster Stelle. Wenn Aric könnte, würde er wahrscheinlich sogar auf Schlaf und Nahrung verzichten um den König niemals aus den Augen lassen zu müssen. Dass er Taos' Leben überhaupt jemand anderem anvertraute, war an sich schon ein kleines Wunder. Deshalb war selbst überdurchschnittlich in diesem Fall nicht einmal annähernd gut genug. Er hatte mit dem ersten Blick erfasst, was Aric von den Rekruten hielt. Allein die Tatsache, dass sie den Ehrgeiz hatten sich für den Job zu bewerben, nahm ihnen bereits die Chance dieses Ziel jemals zu erreichen. Aric machte sich nicht einmal die Mühe sie nach ihren Motiven zu befragen. Warum er trotzdem die Farce dieses Auswahlverfahrens aufrecht erhielt, konnte Gorjak nur vermuten.Der Rabe knabberte an Arics Finger und stieß ein Krächzen aus, das beinahe vorwurfsvoll klang. Aric runzelte leicht die Stirn und Gorjak unterdrückte ein Seufzen. Manchmal hatte er das Gefühl der Vogel wusste tatsächlich, wovon gesprochen wurde.
„Kargoff bleibt stur", wechselte Aric ohne Vorwarnung das Thema. Gorjak nickte.
„Es war zu erwarten" , erklärte er und musterte seinen Freund von der Seite.
„Du hattest Recht mit deinen Vermutungen. Etwas stimmt nicht in Ibna, Aric. Ich kann es nicht benennen, aber es war deutlich spürbar. Kargoff hat sich verändert. Der Hof ist in Unruhe. Du solltest auf der Hut sein", warnte er den Hauptmann.
Aric seufzte.
„Ibna sitzt Taos im Nacken. Sie dürfen nicht ignoriert werden. Die Schatzkammern sind leer. Dieser Hof kann nicht von Luft und Liebe leben, Gorjak."
„Ich weiß", schnaubte Gorjak. „Doch Kargoff wird unter den gegebenen Umständen nicht einlenken."Aric sah in die Ferne, seine Augen verschluckten die Nacht.
„Wenn du zur Festung reitest, sag dem hohen Meister, er kann Abhans finanziellen Untergang aufhalten, wenn er mich in einen Kerker sperrt und den König davon abhält mich jemals wieder herauszulassen. Sag ihm, ich werde mich nicht zur Wehr setzen und sag ihm, es muss aussehen, als sei es Taos' Idee gewesen."
Gorjak schnaubte ungläubig, doch ehe er etwas erwidern konnte, fuhr Aric bereits fort: „Wenn seine Majestät sich nicht überzeugen lässt, schlagt mir den Arm ab. Ist mir egal, wie der Meister das hinterher erklärt, Hauptsache er bringt es glaubhaft rüber. Ohne meine Schwerthand bin ich als Hauptmann wertlos. Dann hat Taos keine Wahl mehr."
Gorjak atmete tief durch, hauptsächlich um seine Wut unter Kontrolle zu bringen.
„Nein!", erwiderte er dann kalt.
„Wenn du es nicht tust, finde ich einen anderen Weg."
„Das ist mir klar." Er wandte sich zu seinem Freund um, die lange Narbe hob sich dunkel aus dem blassen reglosen Gesicht. Gorjak legte die Hände auf Arics Schultern und fixierte ihn mit festem Blick.
„Du hast Abhan schon einmal gerettet, Aric. Lass verdammt nochmal jetzt andere den Helden spielen! Taos würde dem nicht zustimmen. Und Lanis Treisa mag der hohe Meister der Krieger sein, aber er ist auch Taos' Freund und Mentor. Er würde sich niemals gegen ihn stellen. Nicht so. Denk nach, Mann, du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Du weißt, weshalb Taos dich nicht wegsperren kann. Er braucht dich! Er tankt Kraft aus deiner unerschütterlichen Selbstaufgabe, du Idiot. Dass du seinen Rücken deckst, erinnert ihn tagtäglich daran, weshalb er diese Krone trägt und ohne dich hätte ihre Last ihn längst gebrochen. Wenn du Abhan helfen willst, sieh gefälligst zu, dass unser König nicht den Mut verliert, anstatt gegen seine Entscheidungen zu rebellieren!"Der Rabe krächzte zustimmend. Gorjak versuchte ihn zu ignorieren.
Ein Zucken seines rechten Augenlides war Arics einzige Reaktion, bevor er sich wieder der Regen verhangenen Nacht zuwandte.„Ich finde keinen Ausweg, Gorjak", gestand er mit einem leisen Seufzer und Gorjak lächelte, obwohl ihm nicht wirklich danach war.
„Es gibt immer einen Ausweg. Vielleicht ist es aber nicht an dir, ihn zu finden."
Aric schwieg.
„Außerdem kannst du nicht erwarten, dass irgendjemand dir den Posten abspricht, solange es nicht einmal geeignete Rekruten gibt, um die Reihen zu füllen, nachdem du weg bist."
Arics Mundwinkel zuckten.
„Subtil, alter Freund. Viel zu subtil", warf er ein und sein Tonfall wurde etwas leichter.
„Kannst du es mir verdenken? Du bist in letzter Zeit wirklich schwer zu knacken."
Endlich sah Aric ihn an und in den schwarzen Abgründen flackerte Schmerz auf, der Gorjak mitten ins Herz fuhr. Er versuchte sich seine Erleichterung über diese Gefühlsregung nicht anmerken zu lassen. Dass Aric ihn das sehen ließ, wog jede Niederlage der letzten Monate wieder auf.
„Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen", sagte er deshalb und Aric nickte. Im selben Moment war der Schmerz verschwunden. Hinfort gewischt von der ewigen Leere, die den Blick des Hauptmanns zeichnete. Der Rabe schmiegte sich in die schwielige kampferprobte Hand und Aric schloss die Finger um ihn und setzte ihn auf seine Schulter, wo er zufrieden die Augen schloss.„Der Küchenjunge, kennst du ihn?", fragte Gorjak unvermittelt.
„Sam? Er ist seit zwei Jahren hier. Sein Onkel hat ihn hergebracht, damit er seinen Lebensunterhalt verdient und der Familie nicht weiter auf der Tasche liegt. Die Mutter starb, als eine Seuche die Armenviertel heimsuchte, wo sie die Kranken versorgte. Der Vater fiel vor den Toren Zenons. Gut möglich, dass einer von uns ihn auf dem Gewissen hat", erwiderte Aric prompt, als hätte das vorige Gespräch nie stattgefunden. Trotzdem musste Gorjak über seine Antwort grinsen. Er bezweifelte, dass es auch nur eine Maus in den Kellern unter der Burg gab, von der Aric nicht wusste.
„Hat er deshalb den Job in der Küche bekommen? Weil Taos sich schuldig fühlt?" Aric schüttelte nur den Kopf.
„Sein Onkel liefert Waren ins Schloss und hat einen guten Draht zu Nora, der Küchenchefin."
Natürlich.
„Warum fragst du?"
Gorjak sah seinen Freund an.
„Er hat Potential. Du solltest ihn prüfen."
Aric seufzte ungeduldig, weil Gorjak das Thema neuer Rekruten nicht fallen lassen wollte. Dennoch glitt sein Blick den Gang hinab in Richtung Küche, als könnte er durch die Wände hindurch bis zu dem Jungen sehen.
„Was siehst du in ihm, was mir nicht aufgefallen ist?", fragte er nachdenklich.
Gorjak musterte sein unbewegtes hartes Profil und ihm wurde warm ums Herz.
„Dich", erklärte er schlicht.Arics Miene verriet nichts. Das unruhige Flügelschlagen des Raben auf seiner Schulter war das einzige Zeichen für den Aufruhr in seinem Innern.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben der Vogel hat mehr Gefühle als du", zog er seinen Freund auf.
Arics Mundwinkel kräuselten sich zu einem seltenen Lächeln.
„Ich seh ihn mir an", versprach er, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.
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Die Raben des Königs
FantasiAric hat seine Aufgabe als Hauptmann der königlichen Leibgarde angetreten. Seine Männer eine unverbrüchliche Einheit aus Loyalität und tödlicher Präzision. Doch das Leben am Hofe lässt sich nur schwer mit seinem Wesen vereinbaren. Auch Taos kämpft...