Kapitel 51

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Anna stöhnte und zog an ihren Fesseln. Ihr Herz blutete – im wahrsten Sinne des Wortes. Adalor hatte es durchbohrt und sie dadurch in ihren Körper zurückgezwungen. Sie wusste nicht genau, warum es sie nicht umgebracht hatte, doch sie war der Serafin – vielleicht konnte man dem Leben nicht das Leben nehmen. Unter Schmerzen atmete sie ein und schloss die Augen. Aus der Ferne erklangen leise Stimmen. Sie versuchte sie zu ignorieren und konzentrierte sich auf ihr Inneres. Der Nebel zog in dichten Schwaden durch ihren Geist, doch als sie dieses Mal nach der Tür suchte, fand sie sie, als wäre diese schon immer da gewesen. Wahrscheinlich war das auch so und Anna hatte sie aus einem ihr unerklärlichen Grund nicht wahrgenommen. Jetzt konnte sie allerdings gar nicht mehr anders, als sie zu bemerken. Ein seltsames Ziehen ging von ihr aus, das um ihre Aufmerksamkeit buhlte – ein Lockruf. Dunkelheit drang unter dem Spalt hervor, kalt und leer. Anna schluckte, nahm ihren Mut zusammen und legte eine imaginäre Hand an die Tür. Sie verdrängte den Schmerz, der dabei auf sie einschlug und behielt die Hand, wo sie war. Ihre Fingerspitzen kribbelten.

„Öffne dich", flüsterte sie versuchsweise.

Doch nichts geschah.

„Was verbirgst du vor mir?", fragte sie lauter.

Keine Antwort.

Anna schnaubte. Wie konnte nur etwas, das zu ihr gehörte, sich ihr gleichzeitig so vehement widersetzen? Am Rande ihres Bewusstseins zog die Magie an ihr wie ein bockiges Tier in seinem Käfig.

Anna blinzelte.

„...sie ist es schließlich, die dein Gefängnis gebaut hat", erinnerte sie sich an Adalors Worte. Dein Gefängnis... Mit großen Augen strich sie über die Tür. Was wenn... sie konnte den Gedanken kaum fassen. Was wenn diese Tür sie nicht aussperrte, sondern ein?
„...die dein Gefängnis gebaut hat..."

Schlagartig wurde ihr kalt. Die Bilder aus ihrem Traum kehrten zurück. Dem Traum, der ihr so viele schlaflose Nächte bereitete und in dem sie sich mit bloßen Händen aus der Tiefe der Erde grub. Erde, dieses Element kannte sie nur voller Wärme und Trost, aber in jenem Traum trat es als ihr Feind in Erscheinung – es sperrte sie ein.

Anna bückte sich und betrachtete die Dunkelheit, die unter der Tür hervorströmte. Langsam hob sie die Hand und schob sie darauf zu. Als ihre Finger den dunklen Strom berührten, fühlte es sich an wie der Blitzschlag, der sie auf der Ebene vor Zenon durchfahren hatte – nur war es Eis, das sie zerschnitt, nicht Feuer. Eis, das seit Wochen ihre Seele zerfraß, das seine Klauen in sie trieb und regelrecht ihr Herz zum Stolpern brachte. Anna keuchte, als auch jetzt wieder die Krallen erschienen, sie packten, sie auf die Tür zuzogen...

Sie donnerte dagegen, als hätte sie vorher Anlauf genommen. Ihr Kopf schwamm und die Krallen lösten sich. Anna musterte die Dunkelheit, die über sie hinwegglitt, um sie herum, als hätte sie begriffen, dass sie mit roher Gewalt nicht weiterkam und nun versuchte ein Schlupfloch zu finden. Ihre Kälte war seltsam tröstend. Eine Träne verirrte sich auf Annas Wangen und sie blinzelte. Woher kam dieses Gefühl? Als sie das nächste Mal blinzelte war die Dunkelheit verschwunden, zurückgeschreckt wie ein Dieb, der sich die Finger verbrannt hatte. Anna richtete sich stöhnend auf und erstarrte. Die Stimmen in der Ferne waren lauter geworden.

 Sie schlug die Augen auf und wandte den Kopf zum Eingang der Höhle, in die sie sie gebracht hatten. Vier dunkle Abgründe starrten zurück.

„Wenn er uns erwischt, sind wir tot!", zischte der kleinere der beiden Erdlinge. Der andere ignorierte ihn und trat vorsichtig näher. Anna beobachtete, wie sein Blick über sie hinwegglitt und an ihrer blutenden Brust hängen blieb.

„Er hat bereits begonnen", flüsterte er.

„Was?", zischte der Kleinere und kam nun auch näher. Ein Zittern glitt über seine Lippen, doch der Große wies ihn zurecht.

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt