Kapitel 66 - Louvisa

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Ein Sturm peitschte über die Klippen, Wassertropfen färbten den Stein in ein glänzendes Schwarz. Die Luft roch schwer nach Meersalz und Regen. Kalter Nordwind riss dunkelblaue Rinnsale in die Wolkendecke, und die untergehende Sonne versah die Spitzen der aufgetürmten Sturmwolken mit goldenen Kronen.

Zwischen dem Sonnenuntergang und den nahenden Gewitter reichten die Schönheit der Natur und die Katastrophe des Lebens einander die Hände. Die Sonne küsste den Sturm, der Frieden das Chaos. Lova sollte verdammt sein, dass sie bei dem Anblick an Viggo dachte.

Ihr Blick glitt zu ihm herüber, während Ivar sie weiter über das Kliff zerrte. Ganze Büschel ihres Haares hingen bereits zwischen seinen Fingern, doch zugleich war es Ivars Blut, das ihr Gesicht bedeckte. Noch immer rann es zähflüssig und dunkelrot aus seiner gebrochenen Nase.

Auch Viggo blutete, trug seine Verletzung allerdings mit weitaus mehr Fassung. Sein Wangenknochen trat in schillerndem Blau hervor, die blutende Wunde in der Mitte glänzte ebenso wie die Regentropfen auf seiner Haut. Aber er trug sein Kinn hocherhoben, seine Schritte strotzten von einer hochmütigen Selbstsicherheit, als würden sie nicht von den Drachenjägern gelenkt werden. Keiner der drei Männer wagte es, ihn anzusprechen.

Zu gern hätte Lova sich über sie amüsiert, doch das würde nur ihre Scheinheiligkeit beweisen. Sie selbst brachte doch kein einziges Wort heraus, wenn sie Viggo ansah.

In seinen Augen schimmerte unbezwingbarer Stolz, ein feines Lächeln lag auf seinem Gesicht. Wann immer sein Blick den ihren streifte, schlich sich ein Hauch Wärme hinein, vermischt mit einer Emotion, die Lova nie ganz erfassen konnte; er wandte sich von ihr ab, bevor es ihr gelang. Länger als einige Sekunden sah er sie nicht an, und sie wünschte sich, über seine Selbstbeherrschung zu verfügen. Stattdessen fanden ihre Augen immer wieder zu ihm zurück.

Unter der Erinnerung seiner Küsse brannten ihre Lippen noch immer.

Es war ein Fehler gewesen, ihn so nah an sich heranzulassen – nicht nur an ihren Geist, sondern auch an ihren Körper. Wenn sie blinzelte, sah sie sein Gesicht vor sich, sein Duft hing in ihrer Nase und die Wärme seiner Haut haftete an ihrer Kleidung. Lova konnte seine Hände spüren, wie sie auf ihren Hüften lagen, ihr Gesicht zwischen ihnen einrahmten und sich schließlich in ihrem Haar vergruben. Sie verfluchte sich selbst, weil es sich so gut, so richtig angefühlt hatte.

Als sollte es so sein, als sollte sie zu ihm gehören wie er zu ihr.

Als stünde nicht der Schatten einer brennenden Insel zwischen ihnen, die Finsternis gebrochener Versprechen und die Leere fehlender Erinnerungen.

Es steht nur zwischen euch, weil du es willst. Die Stimme in ihrem Hinterkopf war zurückgekehrt, obwohl sie nach diesem verfluchten Kuss so still geblieben war. Du zerrst diese Dinge zwischen euch wie eine Mauer, obwohl sie eigentlich eine Brücke sein könnten.

Mit einer Mauer wären wir Beide besser dran, dachte Lova und trat gegen einen der kleinen Kiesel auf dem Klippenpfad. Wasser spritzte in die Höhe, als er in einer Pfütze landete, doch angesichts des Regens machte es keinen Unterschied. Wir sind nur auf begrenzte Zeit Verbündete.

Aber einer von euch steckt mehr in dieses Bündnis als der andere. Die Stimme schnaubte abfällig. Du könntest dich wenigstens bei ihm bedanken.

Eigentlich bevorzugte Lova es, jeden „Ratschlag" der Stimme beiseitezuschieben und im besten Fall das genaue Gegenteil zu tun, doch diesmal... Ihr Blick huschte zurück zu Viggo, und sie biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. Der Bluterguss auf seiner Wange war ihre Schuld, genauso wie die blauen Flecken, die von den Händen der Drachenjäger herrührten, und die sichelförmigen Abdrücke auf seinen Schultern. Zuerst aus Panik, dann aus Verzweiflung hatte sie sich an ihm festgeklammert, weil er der einzige Halt zu sein schien, der ihr geblieben war.

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