Erzählung 86

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Ich brauchte einige Zeit um zu kapieren, dass ich nicht tot war. Ob es Minuten, Stunden oder Sekunden waren konnte ich nicht sagen. Der ausschlaggebende Punkt für diese Erkenntnis war die Kälte in mir, die sich durch meinen kompletten Körper zog. Wäre ich tot, wäre ich in der Hölle und dort war es vermutlich alles andere als kalt. Und der Himmel schied für mich sowieso aus. Es gab einfach zu viel das ich in meinem Leben falsch gemacht hatte. Und all die Schmerzen, die Eva mir hier zufügte konnten die Schuld nicht aufheben. Mit etwas Glück wurden mir dafür ein paar Jahre dort unten im Fegefeuer geschenkt. Vorausgesetzt ich würde dort je wieder herauskommen. Und da kam mir ein Gedanke, der sich anfühlte als würde mir jemand ein Messer aus Eis ins Herz rammen: Ich würde selbst nach meinem Tod meine Familie erst nach Jahrzehnten oder vielleicht sogar Jahrhunderten wiedersehen. Und das war die schlimmste Strafe, die ich je bekommen konnte. Ein Flüstern ertönte, das ich jedoch nicht verstand und von dem ich nicht wusste ob es echt oder nur Einbildung war. Ich wünschte mir ich wäre tot, denn je früher ich in der Hölle schmorren würde, desto eher konnte ich meine Familie wiedersehen. Ich war noch nie ein sehr gläubiger Mensch gewesen, doch die Zeit hier hatte mir gezeigt, dass es eine Hölle geben musste. Woanders konnte Eva nicht hervorgekrochen sein. Und sie hatte mir gezeigt was für ein schlechter Mensch ich war. So jemand wie ich konnte an keinen schönen Ort gelangen. Immerhin war ich schuld am Tod so vieler unschuldiger Menschen: Mama, Petra, Sascha, Paul, Lily, Sylvia, Simon. Sie alle waren nur wegen mir gestorben. Eine kleine Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass ich nichts für unsere Entführung konnte, doch sie verstummte schnell wieder als die Schreie anfingen. Die Schreie der Personen, die ich und Chris am meisten auf dieser Welt liebten. Ich spürte wie etwas Heißes über mein Gesicht lief. Vermutlich eine Träne. Und ich spürte noch etwas. Ein leichtes, unangenehmes Ziehen in meinem Handgelenk. Spürte man solche Dinge noch, wenn man tot war? Und es gab noch etwas das ich in der Hölle nie spüren würde: warme Finger, die sachte über meine Wange fuhren. Nach einem innerlichen Seufzer versuchte ich richtig wach zu werden. Ich wollte herausfinden wer mich da so zärtlich berührte. Da Chris aus offensichtlichen Gründen ausschied blieb nur noch Eva, doch ich wollte mir sicher sein. Je mehr ich wieder zu Bewusstsein kam, desto mehr wurde mir die Kälte in mir bewusst. Doch da war auch etwas anderes. Eine Wärme, die mich umgab, aber nicht ausreichte um mich komplett aufzuwärmen und ein komisches, warmes Gefühl, das meinen linken Arm hochkroch. Den Schmerz meiner Muskeln ignorierend versuchte ich meine Augen zu öffnen, doch die Schwere auf den Lidern wurde ich einfach nicht los. Also versuchte ich es mit den Fingern und tatsächlich gelang es mir nach einiger Zeit. Es war nur ein leichtes Zucken, aber anscheinend hatte es jemand bemerkt, denn kurz darauf hörte ich eine bekannte Stimme neben mir: „Er wird wach. Hol ihn." Wen meinte Eva bitte mit ihn? „Hey mein Großer. Ich wusste du schaffst es", sagte sie direkt danach leise in mein Ohr. Ich wollte etwas tun, zurückweichen, doch noch immer ließ mein Körper keine Bewegung zu. Er war wie eingefroren. Für kurze Zeit spürte ich einen leichten Druck am Anfang meines Gehörgangs und als es verschwand sagte ein Mann: „Noch immer zu niedrig, doch nicht mehr lebensgefährlich. Ich lasse die Infusion noch ein paar Minuten dran, dann reichen die Decken und ein Tee." Schritte entfernten sich, dafür näherten sich andere mit schneller Geschwindigkeit. „Er ist wach? Wie geht es ihm?", hörte ich Chris panisch fragen. Doch wieso diese ängstliche Panik? War er nicht mehr sauer? Oder hatte er eher Angst das ich wieder aufwachte und er mich weiterhin ertragen musste? Doch als ich spürte wie er seine Finger vorsichtig auf meinen linken Arm legte und diesen sachte streichelte kam mir die zweite Option irgendwie unlogisch vor. Was war hier los? Träumte ich? War ich vielleicht doch tot und das hier war nur einer meiner Folterungen? Oder war er wirklich nicht mehr sauer auf mich? Doch wie? Mir blieb nur eine Möglichkeit: ich musste meine Augen öffnen und vollständig aufwachen um zu begreifen was hier gerade geschah.

Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt