Ich hatte mich auf den Sitz gelegt, und Chris sich über mich. Durch die holprige Fahrt spürte ich öfter sein Kinn auf meinen Rücken knallen und auch sein Bauch machte einige Male Bekanntschaft mit meinem Hinterkopf, doch es war egal. Das Adrenalin pumpte noch durch mich und löschte allen Schmerz aus. Nach vielleicht zwei Minuten erklang Davids Stimme: „Alles klar. Ihr könnt hochkommen." Ich spürte wie Chris sich aufrichtete und tat es ihm gleich. Der Wagen fuhr einen Waldweg entlang. Um uns herum waren nur Bäume. Durch den dichten Bewuchs lag kaum Schnee auf dem Boden und den Sträuchern. „Alles in Ordnung bei euch?", fragte David. „Ja alles gut", antwortete Chris, während ich weiterhin zusah wie die Bäume an uns vorbeizogen. Eine Träne löste sich aus meinem rechten Augenwinkel und ich lächelte. Glücksgefühle und Freude durchströmten mich und ich erlaubte mir an meine Familie zu denken und daran, wie unser Wiedersehen aussehen würde. Ich stellte mir Petras Gesicht vor, wenn ich plötzlich vor ihr stand und wie wir erst langsam, dann immer schneller aufeinander zulaufen und uns in die Arme fallen würden. Wie ich ihr Gesicht in die Hände nehmen und unsere Lippen sich verbinden würden. Wie ich die Augen schließen und neben ihrem unvergleichlichen, süchtig machenden Geschmack auch unsere salzigen Tränen schmecken würde. Wie ich meine Kinder in den Arm nehmen und kräftig drücken würde. Es war seltsam daran zu denken und zu wissen, dass es bald Wirklichkeit sein würde. Vor ein paar Stunden war ich noch der Meinung gewesen sie nie wieder zu sehen, hatte gedacht sie wären tot. Und nun war ich schon auf dem Weg zu ihnen. Ich bekam nur am Rand mit wie David sagte, dass er mit uns zur nächsten Polizeistelle fahren würde und wir uns solang ausruhen sollten. Ich spürte wie jemand nach meiner Hand griff. Ich blickte zu ihnen und dann hoch zu Chris, der mich lächelnd ansah. Als er meine Tränen entdeckte drückte er sachte meine Hand. Mein Lächeln wurde noch etwas breiter, bevor ich mich wieder dem Fenster zuwandte. Langsam wurde mir warm und ich begann ein paar der zusätzlichen Klamotten auszuziehen, bis ich nur noch eine Hose, das am wenigsten verschwitzte Shirt und einen Pulli trug. Chris tat es mir gleich. Als wir nach ein paar Minuten auf einen festeren Weg abbogen und die Fahrt nicht mehr so holprig war, lehnte ich meinen Kopf an die Scheibe und döste sogar ein paar Mal kurz ein. Abwechselnd träumte ich von meiner Familie und Evas Folter. „Hey Andreas. Aufwachen", weckte mich die Stimme meines Bruders aus der Erinnerung an den ersten Geburtstag meines ältesten Sohns. „Was?", fragte ich verschlafen. „Wir sind gleich da." Sofort war ich hellwach und schaute aus dem Fenster. Es war schon ziemlich dunkel, doch der Schnee reflektierte das Licht des Vollmonds und der Straßenlaternen. Wir fuhren durch eine Straße mit kleinen, alten Einfamilienhäusern mit Vorgärten. Es schien ein kleines Dorf zu sein und ich fragte mich ob es hier wirklich eine Polizeistation gab oder ob wir hier nur durchfahren würden. Doch warum hatte Chris dann gemeint, dass wir gleich da wären? Was hatte David vor? Ich schüttelte meinen Kopf und verdrängte den Gedanken. Ich wollte nun nicht mehr zweifeln. Wir waren frei. Wir waren Eva entkommen. Das war die Wahrheit und fertig. Kurz darauf bog David auf einen Parkplatz vor einem Gebäude ab, das das Größte hier zu sein schien. Über der Tür, zu der man ein paar Stufen erklimmen musste, hing ein blaues Leuchtschild mit der Aufschrift ‚POLIZEI'. Ich starrte das Schild an, während David den Motor abstellte und sich zu uns umdrehte. „Seid ihr bereit?" Ich schluckte und schaute nach links zu meinem Bruder. Dieser blickte mich ebenfalls an. Er lächelte noch immer, doch man sah ihm die Nervosität deutlich an. „Bereit?", fragte er lautlos und ich nickte. „Bereit." Die Aufregung übernahm nun auch die Kontrolle über meine Gefühle und meinem Körper. Ich zitterte als ich nach dem Türgriff fasste und an diesem zog. Als es klickte und die Tür aufsprang machte mein Herz einen freudigen Sprung. Irgendwo in mir hatte ich vermutlich gedacht, dass sie sich nicht öffnen lassen würde. Dass wir immer noch eingesperrt waren. Doch dieses weitere kleine Stück Freiheit machte mir Mut auf das Folgende. Ich wusste wir würden den Beamten gleich alles erzählen müssen, doch ich war mir nicht sicher ob ich das wirklich schon konnte. Doch ich musste. Nach einmal tief durchatmen straffte ich meine Schultern und stieg aus. Auf der anderen Seite des Autos warteten David und Chris. Ich ging zu meinem Bruder und griff nach seiner Hand. Es beruhigte mich ihn bei mir zu wissen. Es war einfach seltsam hier zu sein. Schon faszinierend wie schnell man sich an einen Zustand gewöhnen kann. In dem Fall an unsere Gefangenschaft. Ich hatte nicht gedacht, dass wir jemals wieder in den Genuss von Freiheit kommen würden. „Dann mal los", meinte David und stapfte durch den knöchelhohen Schnee auf die kleine Treppe zu. Wir folgten ihm und mit jeder Stufe schienen meine Knie weicher zu werden und das Gefühl von Freiheit größer.
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Ihr. Entkommt. Nicht!
Fiksi PenggemarEntführung, Gefangenschaft, Folter. Jeder hat bei diesen Worten Bilder aus Filmen oder Büchern im Kopf. Aber wer rechnet schon damit soetwas selbst zu erleben? Wohl keiner. Genauso wenig wie die beiden Magierbrüder Chris und Andreas. Doch plötzlich...