Erzählung 107

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Die Worte kamen in meinem Gehirn an und lösten eine Welle des Schocks aus. „Nein. Nein das kann nicht sein. Du... du musst dich irren. Er... er kann nicht tot sein." Eva schloss ihre Augen und ließ ihren Kopf sinken. „Es tut mir leid", sagte sie traurig. Ein Stich in meinem Herzen trieb mir die Tränen ins Gesicht. Traurigkeit, Fassungslosigkeit und Bestürzung jagten durch meinen Körper und hinterließen eine Gänsehaut, während ich erst einige Sekunden still zu Eva starrte, die sich nicht bewegte, bis ich komplett zusammenbrach. Ich konnte nicht fassen, dass er wirklich tot sein sollte. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Mein kleiner Bruder durfte nicht tot sein. Das konnte einfach nicht wahr sein. Eine Zeit lang saß ich einfach nur zusammengekauert auf der Couch und weinte. „H...hast...also kannst...kann ich...ihn... ihn sehen?", schluchzte ich und versuchte mich wieder etwas zu beruhigen. Ich wollte ihn sehen. Sonst würde ich es nicht glauben können. Eine Stimme in mir schrie ich solle es lassen, doch das konnte ich nicht. Ich brauchte den Beweis. Die Sicherheit. Auch wenn es eine sehr schmerzhafte war. Eva hob den Kopf und sah mich mitfühlend an. „Bist du dir sicher? Ich weiß nicht ob..." Ich unterbrach sie: „Ja. Ich muss ihn sehen. Ich muss... ich weiß eigentlich gar nicht so genau warum." Ich wischte mir mit den Händen die Tränen von den Wangen und richtete mich auf. Eva betrachtete mich kurz und nickte dann. „Na gut. Wenn du dir sicher bist. Aber ich muss dich warnen. Seine Verletzungen von dem Unfall waren nicht schlimm, aber er hat trotzdem ein bisschen was abbekommen." Ich schluckte trocken, erwiderte jedoch nichts. „Okay", meinte Eva leise und stand auf. Ich tat es ihr gleich und folgte ihr dann in den Flur. Dort zog sie rechts eine Tür auf und betätigte einen Lichtschalter, woraufhin weiter unten ein Licht aufflackerte. Vor uns befand sich eine Treppe, die nach unten führte. „Wir haben ihn in den Keller gebracht, weil es dort kühler ist. Wir wussten nicht wo wir ihn sonst hinbringen sollten. Die Erde ist gefroren und deshalb zu hart um ein Grab zu schaufeln. Außerdem dachte ich du willst ihn vorher vielleicht nochmal sehen." Ich nickte und verdrängte den Kloß, der sich in meinem Inneren immer mehr aufstaute und der kurz davor war mich erneut zum Zusammenbruch zu bringen. „Bist du dir wirklich sicher?", fragte sie an mich gewandt und wartete mein Nicken ab. Dann begann sie die Stufen hinab zu steigen. Ich atmete tief durch und versuchte mich auf das, was ich gleich sehen würde vorzubereiten. Auch wenn dies so ziemlich unmöglich war. Bilder vom Tod unseres Papas kamen mir ins Gedächtnis. Die Schwere auf meinem Herzen wurde noch größer. Mit jedem Schritt, den ich tiefer in den Keller ging nahm die Kälte und die Panik in mir zu. Ich spürte direkt wie kalt es hier unten war und sich meine Gänsehaut verstärkte. Ich vermied den Blick in den Raum und blickte nur auf meine Schuhe und die Stufen. Plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich Chris wirklich sehen wollte. Das Atmen fiel mir schwer und erst am Ende der Treppe hob ich meinen Kopf. Mein Blick fiel direkt auf die Raummitte. Dort stand eine hüfthohe Unterlage, die bis zum Boden mit einem weißen Laken bedeckt war. Darauf lag ebenfalls ein weißes Tuch, unter dem sich ein dünner Körper abzeichnete. Ich blieb stehen, konnte mich nicht bewegen und starrte einfach nur unentwegt auf die Silhouette vor mir. Eva hatte sich an das Ende gestellt, an dem ich den Kopf vermutete. Sie blickte mit trauriger und besorgter Miene erst auf das Tuch und dann zu mir. Erneut schluckte ich und trat langsam näher. Während der vier Schritte, die ich brauchte um neben Eva zu stehen, spürte ich einen starken Druck in meiner Brust. Am liebsten wäre ich schreiend weggerannt, doch gleichzeitig hielt mich etwas hier unten fest. Ich spürte wie ich zitterte. Ob es von der Kälte oder der Angst kam wusste ich nicht. ‚Bitte lass es nicht ihn sein. Bitte lass es nicht Chris sein', betete ich in meinen Gedanken. Nach einem letzten Blick zu mir griff Eva nach dem Tuch und begann es langsam nach unten aufzudecken. Beginnend bei den Haaren legte sie so Stück für Stück des Gesichtes frei. Mit jedem Zentimeter beschleunigte sich meine Atmung, Tränen füllten meine Augen und verschleierten meine Sicht. Als dann das Gesicht komplett frei lag konnte ich mir ein Schluchzen nicht verkneifen und drückte mir eine Faust gegen die Lippen. Er sah schrecklich aus: blasse Haut, eine schiefe Nase, Wunden an Mund und Wange und ein blaues Auge. Doch es war eindeutig: dort vor mir lag mein kleiner Bruder. Er sah nicht anders aus als sonst wenn er schlief. Und das tat er ja auch. Nur diesmal für immer.

Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt