„Und dann?", reißt mich die Stimme meiner Psychologin aus meinen Erzählungen. Ich drehe meinen Kopf zu ihr und bin kurz verwirrt. Es ist das erste Mal, dass sie mich in meinen Erzählungen unterbricht. Ich räuspere mich und fahre, mit leichter Unsicherheit über die plötzliche Änderung ihres Verhaltens, fort: „Ähm... Eva war nicht sonderlich erfreut darüber und versuchte mich immer wieder zu überreden bei ihr zu bleiben, doch ich bestand darauf nach Hause zu kommen und meinte zur Not würde ich zu Fuß gehen. Also fuhr sie mich zu meiner Mutter." „Hat sie Eva gesehen?" „Nein. Sie ist direkt weggefahren, nachdem ich ausgestiegen bin", unterstrich ich mit einem Kopfschütteln. Frau Steiner nickt und fragt weiter: „Und was geschah dann?" „Ich klingelte und als sie öffnete starrte Mama mich erstmal nur an bis ich sie begrüßte. Dann fiel sie mir um den Hals, erdrückte mich fast und weinte. Wir gingen rein und sie fragte mich aus und erzählte mir dann die Wahrheit." „Welche Wahrheit?" Ich schlucke und versuche meinen Herzschlag ruhig zu halten. „Dass es nie einen Streit gab zwischen Petra und mir, dass Chris und ich vor über einem halben Jahr verschwunden sind und es kein Lebenszeichen von uns gab." Bei den nächsten Worten treten mir Tränen in die Augen. „Sie fragte mich nach Chris und was geschehen war und ich konnte ihr nichts Genaues sagen. Nachdem wir uns beruhigt hatten sind wir dann zu mir gefahren. Es war schön meine Frau wieder zu sehen und wir lagen uns lange in den Armen. Irgendwann kamen meine Kinder nach Hause. Sie freuten sich riesig mich zu sehen und ich freute mich genauso sehr." „Und dann sind sie zur Polizei?" Ich nicke. „Ja. Ich erzählte ihnen das Bisschen was ich wusste und sie fuhren zu Evas Haus. Doch da war niemand mehr. Nach ein paar Tagen kamen nach und nach meine Erinnerungen wieder." „Ich habe eine Frage an Sie", sagt Frau Steiner und ich drehe meinen Kopf von der Decke zu ihr. „Bemerken Sie den Unterschied?" Ihre Augen schienen mich zu durchbohren, während sie auf eine Antwort wartet. Doch ich verstehe nicht was sie meint. „Unterschied? Was meinen Sie?" „Ich frage mal so. Erinnern Sie sich an die Klamotten ihrer Mutter oder ihrer Frau? An ihren Geruch?" Mein Mund öffnet sich um zu antworten, doch kein Ton kommt heraus. Ich kann es nicht beantworten. Frau Steiner bemerkt mein Zögern und fragt weiter: „Wie war das Wetter? Wie lange sind Sie gefahren? Waren viele andere Autos unterwegs?" Angestrengt durchforste ich mein Hirn. „Es... es war kalt... und... sonnig", sagte ich, doch ich bin mir keineswegs sicher. Es war doch sonnig. Oder? „Ich... Ich war bestimmt einfach nur zu aufgeregt, um mir das alles zu merken", meine ich unsicher. Da war das doch normal, oder? „Wieso? Sie wussten nichts mehr von ihrer Entführung und dachten sie hätten sich nur ein paar Tage Auszeit gegönnt. Und klar könnte man da den Tod ihres Bruders als Argument aufbringen, aber wieso konnten Sie mir die Wochen und Monate ihrer Gefangenschaft, die sicherlich genauso traumatisierend waren, so genau und oft bis ins Detail hin beschreiben?" Mein Atem beschleunigt sich und ich spüre mein Herz in meiner Brust klopfen. „A...aber... ich meine..." „Ich weiß das ist gerade hart, aber ich möchte sie nicht weiter im Unklaren lassen." „Unklaren?" „Naja wohl eher in ihrer Scheinwelt." Ohne eine Ahnung was sie von mir will schaue ich meine Psychologin verdutzt an und richte mich auf. „Frau Steiner was..." „Ich weiß sie möchten das nicht von mir hören Herr Reinelt, aber sie werden bald aufwachen und wir haben nicht mehr so viel Zeit." War sie verrückt geworden? Ich schwinge meine Beine auf den Boden und stehe auf. „Frau Steiner ich weiß nicht was sie von mir wollen. Am besten ich gehe jetzt nach Hause." „Zu ihrer Familie?", fragt mein Gegenüber und steht ebenfalls aus. „"Hören Sie ich...", beginne ich, doch werde erneut unterbrochen. „Sie möchten es nicht wahrhaben. Und das verstehe ich. Doch sie kennen die Wahrheit." „Welche Wahrheit verdammt nochmal?", schreie ich sie an. „Die Wahrheit, dass Sie nie entkommen sind."
„Was? Haben Sie nun komplett den Verstand verloren?", frage ich meine Psychologin immer noch mit zu großer Lautstärke. „Sie wissen das es stimmt", erwidert sie ruhig und setzt sich wieder. „Aber... ich meine wir reden doch hier. Ich sitze seit Wochen bei ihnen auf der Couch und erzähle was war. Und ich weiß genau, dass ich vor ein paar Stunden noch neben meiner Frau im Bett lag." Ich spüre das Verlangen aus der Tür zu rennen und nach Hause zu fahren, doch stattdessen setze ich mich und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. „Ich bin hier. Ich bin hier", murmle ich vor mich hin. „Das kann doch alles nicht sein. Das ist doch unmöglich." „In Träumen ist nichts unmöglich Herr Reinelt", erwidert Frau Steiner ruhig und ich blicke sie an. Tränen verschleiern mein Gesicht. „Träumen? Ich träume?" Meine Psychologin nickt. „Aber... aber ich kann mich doch an alles erinnern. Wenn... wenn ich nicht zu Hause bin... Wo bin ich dann?" Sie schweigt und ich nicke wissend. „Das heißt... ich bilde mir das alles nur ein." „Ich schätze sie verarbeiten in ihren Träumen alles Geschehene. Sie wollen begreifen was passiert ist und warum und haben sich deshalb eine Welt erschaffen, in der sie sicher sind und Hilfe bekommen." Da kam mir ein Gedanke: „Heißt das... Chris lebt noch?" Hoffnung durchströmt mich, doch der Funke verschwindet so schnell wie er gekommen war, als ich Frau Steiners Kopfbewegung sehe. „Nein tut mir leid. Ihr Bruder ist tot und sie haben wirklich vergessen was alles passiert ist." „Aber ich habe es ihnen doch erzählt..." „Ja hier im Schlaf können sie sich an alles erinnern. Doch sobald Sie aufwachen werden Sie nur noch wissen, dass sie einen Alptraum hatten." Ich will erwidern, dass das doch keinen Sinn macht, doch Frau Steiner kommt mir zuvor. „Ja ich weiß das ist verwirrend. Aber unser Gehirn ist zu Erstaunlichem im Stande. Es kann Informationen erfassen und vergessen. Und manchmal werden besonders schmerzhafte und traumatisierende Erinnerungen weggesperrt. Sie sind noch da, doch man hat keinen Zugriff mehr dazu. Und manchmal passiert es dann, dass die Erinnerungen bei bestimmten Reizen, oder wie bei ihnen im Schlaf, hochkommen." „Ich kann das nicht glauben", sage ich. „Ich gehe jetzt nach Hause." Ich will aufstehen und einfach nur in die Arme meiner Frau, doch irgendetwas hält mich fest. „Was?", frage ich, doch stocke als sich meine Psychologin vor meinen Augen langsam auflöst. „Nein nein nein nein nein", schreie ich immer lauter, während vom Fenster aus ein helles Licht auf mich zurast und mich schließlich komplett einnimmt.

DU LIEST GERADE
Ihr. Entkommt. Nicht!
Hayran KurguEntführung, Gefangenschaft, Folter. Jeder hat bei diesen Worten Bilder aus Filmen oder Büchern im Kopf. Aber wer rechnet schon damit soetwas selbst zu erleben? Wohl keiner. Genauso wenig wie die beiden Magierbrüder Chris und Andreas. Doch plötzlich...