Erzählung 89

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Wieder geschah tagelang nichts. Chris' Schulter heilte gut ab, ich hatte mich komplett erholt und unser Streit war vergessen. Auch wenn mich die Gedanken, dass ich Schuld an der ganzen Sache war und das Chris mit all seinen Anschuldigungen Recht gehabt hatte, nicht losließen und mich weiterhin heimsuchten, wenn wir abends im Bett lagen oder ich zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Und die hatte ich zur Genüge. Chris und ich verbrachten nun zwar wieder die Zeit gemeinsam, doch wir redeten nicht viel. Wir wollten nur noch hier weg, körperlich sowie geistig. Und da uns momentan nur letzteres blieb versuchten wir nur solche Themen zu finden, die uns das alles hier für einen Moment vergessen ließen. Doch schnell wussten wir nicht worüber wir reden sollten, denn bald erschien uns jedes Thema nur daran zu erinnern, dass wir hier nie wegkommen würden. So groß unsere Hoffnung auf den Typ gewesen war, der uns hier rausholen wollte, so schnell schwand sie doch mit jedem Tag. Zu Beginn hatte ich noch die Tage gezählt bis er wieder auftauchen würde, doch als auch nach über zwei Wochen kein Lebenszeichen von ihm kam ging auch das letzte bisschen Hoffnung. Wir hatten es nie ausgesprochen, doch es war klar das wir beide so fühlten. Unsere Haltung wurde immer eingefallener als würde eine große Last auf unseren Schultern liegen, wir sprachen weniger und sahen dauernd müde aus, obwohl wir genug schliefen. Und auch Petra war inzwischen verschwunden. In jedem unbeobachteten Moment rief ich nach ihr und hoffte sie würde plötzlich wieder neben mir stehen oder im Spiegel vorbeihuschen. Doch nichts. Je ruhiger und hoffnungsloser Chris und ich wurden, desto glücklicher schien Eva zu werden. Sie ließ uns immer mehr Freiraum. Wir durften allein raus, auch wenn uns die elektronischen Fußfesseln in der Nähe des Hauses hielten, doch es schneite immer mehr und so blieben wir nie lange draußen. Auch im Umgang mit uns wurde sie anders. Sie ließ ab und zu das Radio laufen, wenn wir bei ihr in der Küche oder im Wohnzimmer waren, doch sie schaltete es immer ab, wenn die Nachrichten anfingen. Zudem wurde sie auch immer lockerer im Umgang mit uns und tat bei kleineren Vergehen gegen ihre unausgesprochenen Regeln, wie zum Beispiel ein Widersprechen oder einen zu hastigen Schritt in ihre Richtung, so, als wären sie nie geschehen. Und so komisch und verdreht dieser Gedanke auch war, tat es mir leid. Ich wollte von ihr bestraft und gefoltert werden in der Hoffnung mal wieder abschalten zu können. Doch wie sollte das geschehen ohne das es nach hinten losging? Wenn ich etwas Falsches tat würde Chris bestraft werden und ihn fragen konnte ich auch nicht. Ich hatte das Gefühl ich sollte mich langsam komplett damit abfinden hier zu bleiben. Der Typ meldete sich ja doch nicht mehr, falls Eva ihm nicht schon auf die Schliche gekommen war und ihn getötet hatte. Und bei diesem Schnee wäre eine Flucht eh unmöglich, da man jede unserer Spuren sofort verfolgen könnte und bis es wieder warm wurde wären wir vermutlich schon komplett gebrochen oder tot. Als wir eines Tages zum Mittagessen nach unten kamen lief im Fernsehen irgendeine Musiksendung und auf unseren Tellern lag je ein Kinder Überraschungsei. Während ich mich setzte ließ ich das kleine Ei nicht aus den Augen. Aus irgendeinem Grund machte es mir Angst. Wir hatten noch nie etwas von Eva bekommen und das machte mich misstrauisch. Und Chris schien es nicht anders zu gehen als ich ihm einen kurzen Blick zuwarf. „Schaut nicht so als würden die Eier gleich explodieren", ertönte Evas Stimme hinter mir und kurz darauf trat sie neben mich und stellte eine dampfende Schüssel mit Kartoffeln auf den Tisch neben einen zugedeckten Topf, der hier schon stand. „Na los macht sie auf. Sie beißen nicht", lachte sie. „Gibt... gibt es einen besonderen Anlass?", fragte Chris leise. „Ach ja das wisst ihr ja gar nicht. Heue ist Nikolaus." Ich stockte. Nikolaus. Der sechste Dezember. Das hieß wir waren seit gut fünf Monaten hier gefangen. Innere Kälte durchzog mich und mein Blick ging ins Leere. Fünf Monate. Die Zahl schwirrte durch mein Gehirn. Fünf. Fünf. Fünf. An was anderes konnte ich nicht denken. „Na los jetzt. Macht auf. Ausnahmsweise gibt's die Schokolade mal vor dem Essen", riss mich Eva aus der Spirale, die mich gerade nach unten gezogen hatte. Ich blinzelte und blickte dann in das strahlende Gesicht unserer Entführerin. Chris begann schon das Papier langsam zu entfernen als ich mit leicht zitternden Händen nach meinem Ei griff. Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte Angst. Dabei war es doch nur ein ganz gewöhnliches Überraschungsei wie man es in jedem Laden kaufen konnte. Langsam entfernte ich feinsäuberlich die Verpackung und brach die beiden Hälften vorsichtig auseinander, sodass die kleine, gelbe Kapsel zum Vorschein kam. Mit einem Blick zu Chris sah ich, dass er genauso weit war wie ich. Mein Blick glitt weiter zu Eva, die uns mit freudigen Augen beobachtete. Ein ungutes Gefühl überkam mich bei diesem Anblick und ich überlegte ob es besser war erst die Schokolade zu essen um das Unvermeidliche weiter hinauszuzögern, doch Eva hatte andere Pläne: „Na los schaut rein." Ihre Freude verstärkte meine Angst und ich unterdrückte das Zittern meiner Finger, als ich an zwei Seiten auf die Kapsel drückte, sodass der Deckel aufsprang und das Innere zum Vorschein kam.



Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt