Erzählung 4

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Die nächste Zeit kam mir vor wie Stunden, während ich immer wieder versuchte Chris aufzuwecken. Ohne Unterlass schüttelte ich heftig an seiner Schulter, während Chris weiter wimmerte und seinen schweißüberströmten Kopf nach rechts und links drehte. Meine Sicht verschwamm durch die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten. „Chris bitte. Wach doch auf!" Meine Stimme zitterte und vermutlich würde man mich nicht verstehen, wenn jemand hier wäre. Plötzlich riss Chris seine Augen auf, setzte sich auf und bewegte sich nicht. Minutenlang sagte und bewegte sich keiner von uns, bis Chris seine Hände hochnahm und sein Gesicht in ihnen vergrub. Als nächstes hörte ich leise Schluchzer, die mich sofort aus meiner Starre holten. Ich kniete mich hin und schlang von hinten meine Arme um seinen dünnen Oberkörper. „Schhh ganz ruhig. Ich bin da." Chris lehnte sich an mich und ließ seinen Tränen freien Lauf. „Ich will nach Hause Andreas", brachte er schluchzend heraus. „Wir kommen hier wieder raus. Was es auch koste. Wir kommen wieder nach Hause." Umständlich drehte mein kleiner Bruder sich um, schlang seine Arme um meinen Hals und vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Ich drückte ihn fest an mich, wiegte meinen Oberkörper leicht vor und zurück und streichelte ihn mit meiner rechten Hand immer wieder über den Hinterkopf, während ich dauernd meine Worte wiederholte: „Wir kommen hier raus. Wir kommen wieder nach Hause. Alles wird wieder gut." Irgendwann lösten wir uns kurz voneinander und wischten uns die Tränen aus dem Gesicht. Gebracht hatte das jedoch nichts, da immer wieder neue folgten. Da meine Beine begannen einzuschlafen setzte ich mich wieder auf meinen Hintern und lehnte mich an die Wand. Sofort legte sich Chris vor mich und bettete seinen Kopf auf meinen Oberschenkeln. Schweigend hingen wir unseren Gedanken nach. „Du Andy?", unterbrach Chris die Stille. „Ja?" „Ich hab Hunger." Kurz lachte ich auf. Das hörte sich in diesem Moment echt absurd an, doch ich merkte wie auch mein Bauch sich zusammenzog und sich nach etwas Essbarem sehnte. „Ich auch." „Denkst du es kommt irgendwann mal jemand oder müssen wir hier unten..." Weiter sprach er nicht und das war auch nicht nötig. Ich wusste was er meinte, doch darüber nachdenken wollte ich auf keinen Fall. Daran zu denken würde mir nur den letzten Rest Hoffnung rauben. Wenn ich so darüber nachdenke hatte ich nun schon kaum noch welche, doch das konnte ich nicht zeigen. Durfte ich nicht zeigen. Ich musste stark sein. Für mich, aber vor allem für meinen kleinen Bruder. „Bestimmt kommt bald jemand. Bestimmt." Und wieder verfielen wir in Schweigen. Irgendwann war mir als hätte ich ein Geräusch gehört. Sofort lauschte ich, doch konnte nichts mehr hören. Ich hatte es mir wohl nur eingebildet. Chris hatte seine Augen inzwischen wieder geschlossen, doch schlafen tat er nicht. Dauernd spielte er mit seinen Fingern oder fuhr sich durch seine zerzausten Haare. Verübeln konnte ich es ihm nicht. Würde er nicht auf mir liegen würde ich vermutlich genauso wenig still dasitzen wie er. Und wieder hörte ich etwas. Was genau wusste ich nicht. Da hörte ich es erneut. Es war wie ein leises Quietschen. „Chris. Hörst du das auch?" Der Angesprochene öffnete seine Augen. „Was denn?" Wir beide lauschten angestrengt, doch nichts. Entmutigt seufzte ich auf. „Vermutlich werde ich einfach nur verrückt", meinte ich. Chris öffnete gerade seinen Mund um etwas zu erwidern, als plötzlich ein lautes Knacken und Schaben zu hören war wie wenn 2 Steine aneinander reiben. An der Decke erschien ein dünner, heller Lichtstreifen, der allmählich breiter wurde. All meine Muskeln waren angespannt und ich hatte den Atem angehalten. Chris hatte sich aufgesetzt und gemeinsam blickten wir in den hellen Spalt, der immer breiter und breiter wurde. Als dieser unsere Augen traf hoben wir die Arme vor unser Gesicht um uns vor dem blendenden Licht zu schützen. Kurz darauf war aus dem Spalt ein großes, quadratisches Loch geworden. Meine Augen hatten sich weitestgehend an das Licht gewöhnt und ich blickte blinzelnd hinauf. Doch das einzige was ich erkennen konnte war ein Schatten. Das nächste was ich hörte war eine gut gelaunte, weibliche Stimme, die mir eine Gänsehaut bescherte. „Willkommen in eurem neuen Leben Jungs."

Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt