Erzählung 73

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Das Licht blendete mich. Ich kniff die Augen zusammen und legte meinen freien Arm schützend vor sie als ich durch die Türe hindurchgegangen war und im Keller stand. Ich hörte wie Eva neben mich trat noch bevor ich ihren Arm spürte, der sich stützend um meinen Rücken legte. „Geht es?", fragte sie und ich nickte. Eine Gänsehaut überzog mich bei ihrer Berührung und ihre Stimme dröhnte in meinen Ohren, doch wenigstens gewöhnten sich meine Augen allmählich an das Licht. Aus den hellen Flecken formten sich Umrisse, doch es dauerte einige Minuten bis ich meinen Arm herunternehmen und meine Augen öffnen konnte. Erst dann liefen Eva und ich zur Treppe. Mit wackeligen Knien erklomm ich Stufe um Stufe. Das Knarren der Bretter verriet mir, dass Eva direkt hinter mir war. Oben angekommen wartete ich auf Eva und blickte durch die offene Schiebetür, die zum Wohnzimmer führte, hindurch zum Fenster durch das das letzte bisschen Tageslicht hineinschien. „Komm. Ich bringe dich nach oben. Du musst dich ausruhen." Ich hörte kaum zu. Mein Blick hing an den dicken Schneeflocken, die ihren Tanz vollführten bevor sie sanft auf der Erde aufkamen. Es sah so friedlich aus. So still. So still wie die Kammer. Ein Kribbeln lief mir über den Rücken als würden hunderte Spinnen durcheinander laufen. „Andreas", sagte Eva nun etwas lauter. Ich riss mich von dem Anblick los und drehte mich zu meiner Entführerin um, die lächelnd vor mir stand. „Na komm." Mit noch immer wackeligen Knien folgte ich ihr zur Treppe, die wir nebeneinander hochstiegen.
Als Eva gerade die Tür zu unserem Zimmer öffnen wollte, wurde diese bereits schwungvoll aufgezogen. Ein wütend dreinblickender Chris stand vor uns. Seine Nase war von einem dicken, weißen Wattepad bedeckt, das von mehreren Klebestreifen an seinem Platz gehalten wurde. Das untere Ende war leicht rot gefärbt. „Du. Wie konntest du..." „Chris", unterbrach Eva ihn scharf und er verstummte. „Ich weiß du bist sauer, doch lass ihn erstmal etwas ausruhen." „Aber..." „Nichts aber. Er hatte seine Strafe, da braucht dein Bruder nicht direkt noch eine Standpauke von dir." Die ganze Zeit hatte ich in Chris' Gesicht geschaut, der sich nun von Eva abwandte, sich zu mir drehte und mich mit einem hasserfüllten Blick anschaute. „Er ist nicht mehr mein Bruder." Die kalten Worte trafen mich härter als seine Schulter, mit der er mich nur wenige Sekunden später rammte als er an mir vorbei aus dem Zimmer lief. Die Worte brannten sich in mein Gehirn und nahmen es vollständig ein. 'Er ist nicht mehr mein Bruder.' Ja ich hatte ihn irgendwie gehasst. Ja ich war eifersüchtig auf ihn gewesen. Ja ich war sauer auf ihn gewesen, doch er war immer noch mein Bruder und daran hätte aller Hass der Welt nichts ändern können. 'Er ist nicht mehr mein Bruder.' Wieder und wieder hörte ich Chris' hasserfüllte Stimme diesen Satz sagen und jedes Mal schien er ein Messer in mein Herz zu rammen. Ich spürte wie mein Körper zitterte und wie der Schweiß über meinen Körper rann, doch ich konnte mich nicht bewegen. Regungslos lag ich in der Zimmerecke auf dem Boden und fragte mich erst später wie ich dort überhaupt hingekommen war. Als ich wieder einigermaßen klar denken konnte und mich umblickte war es tiefste Nacht. Mit schmerzenden Gelenken richtete ich mich auf und schleppte mich zum Bett. Vermutlich sah ich in diesem Moment aus wie einer dieser Zombies bei 'The Walking Dead'. Ich ließ mich auf die weiche Matratze fallen und wartete. Wartete darauf, dass Chris zurück kam und sich zu mir legte. Er musste nicht mit mir reden und er hatte auch jedes Recht sauer auf mich zu sein, doch ich wollte ihn bei mir wissen. Wollte wissen, dass er es nicht so meinte und wir trotzdem noch Brüder waren. Ich wollte meinen kleinen Bruder bei mir haben. Ich brauchte ihn doch. Und als sich dieser Gedanke in mir formte wusste ich, dass ich riesige Scheiße angerichtet hatte. Schuldgefühle überrannten mich und ließen mir Tränen über die Wange laufen. Alles kam in mir hoch: die Schuld, dass wir hier waren; die Schuld, dass ich ihn nicht beschützt hatte; die Schuld, dass er wegen mir leiden musste all die Male in den Zimmern hier im Haus und dem draußen unter der Erde, in der Scheune oder im Keller; die Schuld, ihn unbegründet beschuldigt und gehasst zu haben; der Schlag auf die Nase und alles andere was mir in diesem Moment in den Sinn kam. Ich hatte es geschafft das zu erreichen vor dem ich immer Angst hatte. Meine tiefste Angst war wahr geworden: ich war allein. Ich hatte alle verloren, die ich liebte und das Schlimmste daran war, dass ich die alleinige Schuld trug.

Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt