Erzählung 109

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Als ich wieder wach wurde tat mir mein ganzer Körper weh. Meine Kopfhaut brannte und im Inneren meines Schädels schien eine komplette Kompanie der Bundeswehr Marschieren zu üben. Inklusive rhythmischer Trommelschläge. Als ich meine Gesichtsmuskeln bewegte spürte ich die getrockneten Tränen auf Wangen und Kinn. Blinzelnd schlug ich meine Augen auf. Erst kam mir die Umgebung nicht bekannt vor, doch als ich meinen Kopf etwas drehte erkannte ich das Wohnzimmer, in dem ich vorhin mit Eva gesessen hatte. Das Licht war gedimmt, draußen war es bereits dunkel und der hellste Schein kam von einem Feuer hinter mir. Ich lag auf einem der Sofas und setzte mich langsam auf. Dabei rutschten zwei Kühlpacks von meinen Knien und mir kamen die Bilder aus dem Keller in den Sinn. Ich sah erneut Chris vor mir liegen. Kalt und leblos. Ein Schluchzen unterdrückend wischte mir schnell die Träne weg, die sich aus meinem Augenwinkel stehlen wollte. In diesem Moment kam Eva mit zwei dampfenden Tassen in den Händen herein. „Ah du bist wach. Wie geht's dir?" Ich schaute sie mit gequältem Blick an. „Ja hast recht. Doofe Frage." Sie setzte sich mir gegenüber und hielt mir eine der Tassen hin. Stumm dankte ich ihr und nahm die Tasse mit beiden Händen entgegen. Die Hitze brannte sich in meine Handinnenflächen, doch ich dachte erst gar nicht daran etwas daran zu ändern. Der Schmerz lenkte mich ab und verbannte die grausamen Bilder von Chris aus meinen Gedanken. Stumm saßen wir da. Ich blickte in meine Tasse und konzentrierte mich darauf nicht an meinen Bruder zu denken. Oder Petra. Irgendwann nahm ich im Augenwinkel wahr wie Eva ihre Tasse an den Mund führte. Ich machte es ihr nach und nahm einen Schluck der heißen Flüssigkeit, die inzwischen soweit abgekühlt war, dass ich mir die Zunge nicht verbrannte. Der Früchtetee hinterließ einen wohltuenden Film in meinem Hals und linderte das leichte Brennen und Kratzen etwas. „Ich", krächzte ich heiser und räusperte mich bevor ich weitersprach. „Was soll ich denn jetzt machen?", flüsterte ich mehr zu mir selbst. „Ich weiß es nicht Andreas", seufzte Eva. Ich schaute zu ihr auf und blickte in ihre Augen, die mich traurig musterten. „Wenn ich irgendetwas tun könnte..." „Danke", meinte ich und schaute wieder meinen Tee an, als würde ich in ihm eine Antwort auf meine Ratlosigkeit finden. Ich hatte niemanden mehr. Mein Bruder war tot, meine Frau wollte mich vermutlich auch nicht mehr sehen. Würde Mama mir die Schuld an Christians Tod geben? Immerhin wäre er nie hierhin gefahren, wenn ich mich nicht mit Petra gestritten hätte. Und sie hätte Recht damit. Ich erinnerte mich zwar nicht an den Streit, aber ich wusste, dass Petra nicht begeistert davon gewesen war, dass ich so viel arbeitete. Doch würde sie deshalb einen Streit anfangen? Ich wusste es nicht. Und ich wusste auch nicht was ich jetzt tun sollte. Sollte ich mich bei ihr melden? Doch wenn es so schlimm war, dass Chris und ich hierher gefahren sind war sie bestimmt noch sauer. Aber meiner Mutter musste ich Bescheid sagen, dass ihr Jüngster nun bei unserem Vater war. Mir jagte es einen Schauer durch den Körper, als ich daran dachte wie sie wohl reagieren würde. Am besten ich überbrachte ihr die Nachricht persönlich. Doch mit einem Blick nach draußen verwarf ich diese Idee. Der helle Mondschein schien auf die weiße Schneedecke, die mindestens einen halben, wenn nicht sogar einen ganzen Meter hoch war. Ein Durchkommen war unmöglich und wer wusste schon wann es wieder tauen würde. Also blieb noch das Telefon, auch wenn es mir davor graute diese Nachricht so unpersönlich weitergeben zu müssen. Erneut nahm ich einen Schluck Tee. „Du kannst natürlich hierbleiben solange du möchtest. Also wenn du willst", sagte Eva mitfühlend. Ich nickte und erwiderte: „Danke. Ich möchte aber keine Umstände machen." „Ach Quatsch machst du nicht. Und weg kommst du momentan sowieso nicht bei diesen Schneemassen." Ich bedankte mich erneut und trank noch einen Schluck. „Wäre es okay, wenn ich mich noch etwas hinlege?" „Ja klar. Du kannst in das Zimmer, in dem du aufgewacht bist vorhin. Ich bringe dich hin." Eva machte sich daran aufzustehen, doch ich schüttelte den Kopf. „Nein schon gut. Ich finde es schon." „Na gut. Dann ruhe dich mal aus." „Danke. Und danke für den Tee." Eva nickte mit einem freundlichen Lächeln, ich stand auf und stellte die halbvolle Tasse auf den Tisch bevor ich das Zimmer verließ. Auf dem Flur vermied ich es zur Kellertür zu sehen und ging zügig zur Treppe und in das Zimmer. Irgendwie kam es mir merkwürdig vertraut und gleichzeitig fremd vor. Ich legte mich komplett angezogen ins Bett und deckte mich zu. Mir jagten unzählige Schauer über den Rücken und ich zitterte, bis ich irgendwann in einen unruhigen Schlaf fiel.


Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt