Erzählung 106

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„Es... war Ende Juni oder Anfang Juli. Ich war mit Chris, meinem Bruder, in unserer Werkstatt. Die Tour war gerade einen guten Monat vorbei, doch wir wollten die Zeit nutzen bis ich mit meiner Familie in Urlaub fuhr. Wir saßen im Büro über irgendwas vertieft, grübelten und lachten viel. Wir hatten die Zeit völlig vergessen und so ging ich erst nach Haus als es schon dunkel war. Als ich nach meiner Familie rief bekam ich keine Antwort und ging sie suchen. Ich fand sie schließlich im Wohnzimmer auf der Couch. Sie schliefen alle vier eng aneinander gekuschelt, während im Fernseher der Abspann irgendeines Films lief. Ich weckte sie nicht, sondern drückte allen einen Kuss auf die Stirn und ging ins Bett. Was am nächsten Morgen geschah... keine Ahnung." Die Panik wurde größer und ich griff mir in meine Haare, die ungewöhnlich lang waren. „Warum kann ich mich an nichts erinnern?" „Hey. Ganz ruhig. Vielleicht kann ich dir ja helfen", sagte die Frau mir gegenüber und zog damit meine Aufmerksamkeit auf sich. „Wissen Sie etwas?" Sie nickte. „Also zuerst mal: ich bin Eva. Du kannst mich ruhig duzen. Und zweitens: ich weiß auch nicht alles was danach passiert ist. Nur das was Chris mir erzählt hat, bevor ihr zu mir gefahren seid." „Sie... Du kennst Chris?" „Ja. Ich bin eine alte Freundin von ihm. Wir hatten uns aus den Augen verloren, nachdem ich in der achten Klasse umgezogen bin, doch durch Zufall sind wir uns im Frühjahr wieder begegnet und stehen seitdem wieder in Kontakt. Aber nur freundschaftlich." „Okay. Ist er auch hier?" Sie stockte und blickte dann auf ihren Schoß, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. „Also. Es ist so das... Ich fange einfach mal von vorne an." Sie hob den Kopf wieder und blickte mir direkt in die Augen. Mich durchzog ein Schauer, von dem ich nicht wusste ob er gut oder schlecht war. „Also wie gesagt ich weiß auch nur was Chris mir erzählt hat. Er meinte du und deine Frau ihr hättet euch wohl gestritten." „Was?", fragte ich dazwischen. Streit? Zwischen mir und Petra? „Ja. Es ging wohl darum, dass du immer mehr Zeit in der Werkstatt verbracht hast, obwohl ihr gerade erst von der Tour kamt. Es hat angefangen kurz bevor ihr in den Urlaub seid und auch dort war es wohl nicht besser." Ich öffnete den Mund um erneut etwas zu fragen, doch Eva sagte zuvor: „Nein lass mich bitte ausreden." Ich nickte und hörte weiterhin aufmerksam zu. Ich wollte kein Wort verpassen. Es war so seltsam etwas über sich zu hören, an das man sich aber nicht erinnern konnte. „Als ihr wiederkamt wurde es wohl auch nicht besser. Du hast sogar eine Weile bei deinem Bruder gepennt. Petra und du hattet die Hoffnung die kurzzeitige Trennung würde eurer Beziehung vielleicht guttun. Doch deine Kinder vermissten dich bald und deshalb bist du zurück. Sie haben von all dem nichts mitbekommen. Auch nicht von dem großen Knall der folgte. Das war vor zwei Tagen." „Vor zwei Tagen?", konnte ich meine Frage nicht zurückhalten. „Ich soll mich ein halbes Jahr mit meiner Frau gestritten haben?" Eva nickte mit trauriger Miene. „Chris hatte mich vor ungefähr einer Woche angeschrieben, ob er mit dir vielleicht vorbei kommen könnte für ein paar Tage. Einfach den Kopf frei kriegen und so. Ich habe natürlich zugesagt. Naja und kurz danach habt ihr euch auf den Weg hierher gemacht." Mitfühlend blickte sie mich an, während ich versuchte das Gehörte irgendwie zu verarbeiten. Ich hatte gehofft, dass die Erinnerungen zurückkommen würden, wenn ich das hörte, doch nichts. Nicht der allerkleinste Funke des Erkennens zuckte durch mein Gehirn. „Und weiter?", fragte ich. „Auf dem Weg hierher hattet ihr einen Autounfall. Ihr kamt ins Krankenhaus und wurdet behandelt. Chris hat mich angerufen. Da ihr nicht lebensbedrohlich verletzt wart haben die Ärzte gesagt, dass ihr gehen dürft. Das Krankenhaus war mehr als überfüllt durch die plötzlichen Schneefälle. Du hattest eine leichte Gehirnerschütterung und hast immer wieder das Bewusstsein verloren. Ich wollte euch eigentlich wieder ins Krankenhaus bringen, aber hier mitten im Wald gibt es nunmal keine Räumdienste und der Schnee ist so dicht, dass es kein Durchkommen mehr gibt. Ich bin unheimlich froh, dass es dir besser geht. Abgesehen von..." „Von meinem Gedächtnisverlust", sagte ich nickend. „Und wo ist Chris? Geht es ihm gut?" Die Sorge um ihn stieg mit einem Mal ins Unermessliche. „Andreas ich... also... ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll." „Was ist los?" Mein kompletter Körper war angespannt. „Es ist so, dass... er... seine Verletzungen waren wie durch ein Wunder nicht schlimm, deshalb haben sie ihn kaum beachtet. Doch irgendwas müssen sie übersehen haben. Er..." „Was?", sagte laut und mit Angst. „Er... ist tot."


Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt