Erzählung 85

626 25 12
                                    

„Es tut mir leid, dass ich so ein Idiot war. Es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützen konnte. Es tut mir leid, dass du wegen mir leiden musstest. Es tut mir leid, dass ich nichts tun konnte um dich hier raus zu bekommen. Es tut mir so unendlich leid." Ich schmeckte meine salzigen Tränen, die mir in Strömen über das Gesicht liefen. Ein schmerzlicher Aufschrei entfloh mir, als mein Körper erneut ruckartig gestreckt wurde. Nach einem lauten Schluchzen sprach ich weiter: „Es tut mir leid, dass ich dich nicht verteidigen konnte. Es tut mir leid, dass ich die anderen nicht aufhalten konnte damit du fliehen konntest. Es tut mir leid, dass ich mich bei Evas Berührungen nicht zusammenreißen konnte. Es tut mir leid, dass ich in der Scheune nichts gesagt habe und du deshalb länger leiden musstest. Es tut mir leid, dass du leiden musstest, weil ich nichts essen wollte. Es tut mir leid, dass ich dir keine Hoffnung geben konnte. Es tut mir leid, dass du dir Sorgen um mich machen musstest. Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien und geschlagen habe. Bitte verzeih mir", schrie ich als Chris ein weiteres Mal an der Kette zog. Mein ganzer Körper schmerzte, doch ich konnte nicht sagen ob es von der Streckung kam oder, weil ich an jedem einzelnen Körperteil zitterte vor Kälte. Die Kette gab wieder nach und ich stand wieder in der normal gestreckten Haltung da. Doch durch das schmerzhafte Zittern meiner Knie stand ich nicht gerade stabil und das letzte was ich wollte war zusammenzuklappen und Chris damit zu schaden. „Und sonst nichts?", ertönte dessen verärgerte Stimme, aus der ich ein leichtes Zittern heraushören konnte. Die Kälte schien auch seinen Körper langsam in Besitz zu nehmen. Ich dachte angestrengt nach woran ich noch schuld gewesen war, doch mir fiel nichts ein. Entweder hatte ich es aus meinem Gedächtnis gestrichen oder die Schmerzen überlagerten mein Denken schon zu sehr. Ich hatte das Gefühl jeden einzelnen Muskel, jede einzelne Sehne und jeden einzelnen Knochen in mir zu spüren, als wären sie bis aufs Äußerste gespannt und kurz davor zu reißen. Das leichte Klirren der Kette, die durch meine zitternden Bewegungen bewegt wurde nahm ich kaum noch war. Nur die Schmerzen, die mit jeder Sekunde intensiver wurden waren noch von Bedeutung. Genauso wie der verzweifelte Versuch nicht einzuknicken. Ich musste um jeden Preis stehen bleiben. Ich durfte Chris nicht leiden lassen. Nicht jetzt wo er eh schon so sauer auf mich war wegen allem. „Bitte", flehte ich leise, als ich merkte wie mein linkes Knie kurz davor war nachzugeben. „Was? Was willst du Bruder?", fragte mein Gegenüber verächtlich, doch machte keine Anstalten erneut an der Kette zu ziehen. „Bitte", wiederholte ich mit gesenktem Kopf. Ich zitterte so stark, dass es mich wunderte das ich überhaupt noch stand. Und dann passierte es. Mein linkes Knie gab nach und ich sackte ein Stück zusammen. Ich hörte den Aufschrei und begann zu weinen. Mit aller Kraft versuchte ich mein Bein wieder zu belasten und schaffte es auch nach einem kurzen Kampf. „Es...Es tut mir leid", weinte ich, weil ich wusste das ich es verbockt hatte. Es dauerte nicht lange bis mich wieder das Gefühl überkam auseinander gerissen zu werden. Chris hatte seine Arme nach unten gezogen. Erleichterung durchströmte mich, da nun endlich ich wieder verdient litt und Chris verschont blieb. Ich versuchte meine Schreie zu unterdrücken, doch die meisten verließen meinen Mund. „Du willst das ich dir vergebe? Das ich alles vergesse? Du bist so ein Schwächling Andreas. Du tust immer auf starken großen Bruder, doch in Wirklichkeit bist du nichts." Jedes seiner Worte traf mein Herz, doch sie taten nicht weh, denn ich wusste er sprach die Wahrheit. Der Zug an meinen Armen ließ etwas nach, doch nicht genug das ich wieder normal stand. Aber gleichzeitig spürte ich wie ich ruhiger wurde. Ich spürte wie meine Atmung und mein Herzschlag sich verlangsamten. Auch als Chris wieder Zug aufbaute blieb ich ruhig. Selbst das Zittern und die Schmerzen ließen nach. Ich schrie auch nicht mehr. Nur vereinzelt kam ein Stöhnen über meine Lippen. Ich wurde wieder heruntergelassen und stand halbwegs normal da, doch das meiste meines Gewichts hing noch an der Kette. „Hörst du mir zu?", fragte Chris gereizt, doch ich hatte nicht die Kraft zu antworten. Mein Herzschlag und meine Atmung fuhren immer weiter runter und ich wusste das es bald vorbei sein würde. „Andreas?" Chris' Stimme war nun sanfter, doch wieder gab ich keine Antwort. Ich hing nur kraftlos da und versuchte nicht ohnmächtig zu werden um meinem Kleinen nicht zu verletzen. „Es...tut...mir leid... Ich liebe....dich", brachte ich mit meiner letzten Kraft hervor als ich wusste ich konnte nicht mehr kämpfen. Und bevor ich in die Dunkelheit abtauchte hörte ich jemanden verzweifelt meinen Namen rufen, der sich nach dem Bruder anhörte, den ich früher gekannt hatte.



Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt