Kapitel 1

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Vida 
(Leben)

Mein Kopf dröhnt. Ich kann meine Augen nicht öffnen. Ich will sie nicht öffnen. Grausame Erinnerungen erscheinen, doch ich versuche sie zu verdrengen. Wo bin ich?
Ein schmerzender Piepston lässt meine Stirn runzeln. Ich drücke meine Ohren mit meinen Fingern zu, in der Hoffnung, dass es etwas bringt.  Ich höre weibliche Schreie und ich schwitze fürchterlich. Mein Herz rast. Ich habe solche angst.

,,Schau sie dir an. Immer wieder das gleiche mit dir.", schlägt mich jemand auf den Kopf.

Ein Albtraum?
Ich öffne zögerlich meine Augen, damit sie sich an das Licht vom Flur gewöhnen. Das Piepsen in meinen Ohren verschwindet. Ich versuche meine unregelmäßige Atmung zu kontrollieren.

,,Na los! Es ist schon spät, du solltest das Essen machen.", sagt mein Vater zu mir. ,,Dieses Schauspiel kannst du dir sparen. Du kannst froh sein, dass ich dich nicht rausgeschmissen habe.", schreit er, während er mein Zimmer verlässt.

Mein Zimmer.. ein einfacher Abstellraum mit nur einem winzigen Bett zwischen den vielen Kisten.

,,Hörst du schlecht?!", ruft er.

Ich stehe auf und gehe in die Küche, um wie üblich das Frühstück vorzubreiten. Ich bin gerade erst 19 geworden und habe meine Schule beendet. Seitdem arbeite ich bei einem Supermarkt und zusätzlich helfe ich Zuhause aus. Ich lebe alleine mit meinem Stiefvater und seiner Tochter, Lucía .

,,Ich werde heute Abend später nach Hause kommen."
Ich nicke stumm.

Seit meine Mutter vor 9 Jahren an Krebs gestorben ist, lebe ich mit ihm und Lucía alleine. Als sie starb, konnten wir die Miete nicht mehr finanzieren, also zogen wir in diese kleine Wohnung ein.
Ich vermisse Mamá sehr. Ich hatte außer ihr niemand anderen mehr, dem ich wirklich nahe stand.

,,Alenia, wann ist das Essen endlich fertig?", setzt er sich in Arbeitsklamotten an den Esstisch.

,,Gleich, Papá.", sage ich, als meine Schwester verschlafen aus ihrem Zimmer kommt.

,,Buenos días", wünscht er ihr einen guten Morgen. Ein viel angenehmer Ton, als noch vor wenigen Minuten. ,,Guten morgen, Papá."

Auch sie setzt sich an den Tisch.
Ich lege das Frühstück zurecht und nehme meinen Teller mit ins Wohnzimmer, um dort zu essen. Weil Lucía und ich uns so oft gestritten haben, hatte Papá die Nase voll und uns verboten zusammen zu essen.

Seit meine Mamá nicht mehr bei uns ist, bricht unsere Familie zusammen. Es ist schrecklich.
Ich wollte nie, dass diese Familie so unglücklich und zerbrochen ist.

Und ich mag diese Atmophäre Zuhause wirklich nicht. Wir reden nie miteinander.

Papà unterbricht die Stille und steht auf, um zur Arbeit zu gehen. ,,Papà, kannst du mir etwas Geld geben? Ich brauche eine neue Handykarte.", sagt Lucía, als sie aufsteht und mit ihren Augen auf ihrem Handy in Richtung Zimmer geht.

,,Ja amor, hier. Bis später, ich muss jetzt gehen.", sagt er eilig und geht aus dem Haus.

Nach Geld gefragt hab ich ihn noch nie. Mit 14 habe ich angefangen bei den Nachbarn auszuhelfen und dafür etwas Taschengeld zu kriegen. Seit knapp einem Jahr habe ich endlich eine feste Arbeit gefunden, um mein Leben im Großen und Ganzen selbst finanzieren zu können.
Lucía ist bereits 20 und weigert sich zu arbeiten. Aber das ist normal in unserer Gegend. Die Frauen machen den Haushalt und die Männer arbeiten.
Doch sie hilft mir leider nie im Haushalt. Sie hasst mich und geht mir aus dem Weg, aus welchen Gründen auch immer.
Oft genug habe ich versucht, dass wir uns vertragen und uns aussprechen. Vergeblich.

,,Lucía, ich gehe jetzt zur Arbeit.", gebe ich ihr Bescheid. Sie trampelt nur zu ihrer Tür und knallt sie laut hinter sich zu.

Ich seufze und binde meine langen hellbraunen Haare zu einem Zopf. Meine blauen Augen habe ich von meiner Mutter.
Das Wetter ist heute besonders schön. Ich trage ein graues T-shirt und eine knielange Jeans-Hose mit Flipflops.

Es tut gut an die frische Luft zu gehen. Wenn ich nicht arbeite, muss ich Zuhause bleiben, weil die Nachbarschaft so gefährlich ist. Dann soll ich aufräumen, putzen, kochen, oder kaputte Möbel reparieren.
Aber ich bin viel lieber auf der Arbeit. Dort habe ich meinen Freiraum.

Unsere Straße entlang, begrüße ich freundlich die Nachbarn.

,,Alenia, mein Kind! Wie schön dein schönes Gesicht am Morgen zu sehen.", ruft mir eine alte Dame hinterher. Ich kenne sie schon seit ich ganz klein bin. Wir sind nur wenige Straßen von unserem alten Haus entfernt, deswegen sehe ich sie gelegentlich.

Ich lächle beschämt und winke ihr zu, während sie mit ihren Freundinnen auf mich zukommt.

,,Du wirst von Tag zu Tag immer hübscher!", ,,Schade, dass meine Enkelkinder schon vergeben sind!", kichern ihre Freundinnen.

,,Ach ach! Was faselt ihr denn da. Mein kleiner Engel wird niemanden von euren nutzlosen Enkelkindern heiraten!", beschützt sie mich und zieht mich dann schnell zur Seite.

,,Hör zu kleines. Es wurde gesagt, dass die Nachbarschaft wieder besonders unsicher sein wird. Also pass auf dich auf!"

,,Ja, abuela. Ich weiß. Diese Männer kamen doch lange Zeit nicht mehr, also werden sie bestimmt auch nicht lange bleiben.", lächle ich, um ihr die Sorgen zu nehmen. Dabei ist unsere Heimat schon seit längerem nicht mehr sicher.

,,Nicht so laut!", flüstert sie. ,,Alenia, pass gut auf dich auf! Bleib nicht zu lange draußen. Eigentlich sollte so ein junges Mädchen wie du nicht in dieser Gegend arbeiten!", meckert sie.

,,Abuela, keine Sorge. Ich bin immer Zuhause, bevor es dunkel ist", lächle ich und streichle ihr auf ihren Rücken.
,,Ja ja, na los jetzt, bevor du noch zu spät kommst!", sagt sie.
Ich drücke ihr bevor ich gehe noch etwas Geld in die Hand, dass ich bei Seite gelegt habe.
,,Kind! Was machst du denn da?!", fragt sie erschrocken.
,,Bitte nimm es an."
,,Das kann ich nicht. Ich brauche das Geld nicht, Alenia!", sagt sie, doch ich laufe schnell davon, damit sie mir es nicht zurückgeben kann.
Ich winke ihr beim laufen nochmal zu und höre sie mir nur hinterherrufen: ,,Ich werde dir das Geld noch zurückgeben, mach dir keine Sorgen! Und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe! Pass auf dich auf."

Ich lache und laufe weiter. Sie hat mir bereits den Tag versüßt. Sie arbeitet in ihrem Alter immernoch, weil sie sonst nicht über die Runden kommt. Ich helfe ihr so gut es geht und so oft sie mich lässt, indem ich ihr Geld gebe oder ihr bei ihrer Arbeit als Obstverkäuferin helfe.

Weil es so heiß ist, komme ich schnell aus der Puste. Ich verlangsame mein Tempo und fange an zu gehen. In Gedanken versunken, bemerke ich fast den schwarzen Wagen nicht, an dem ich gerade vorbeigehe.

Es ist ein wirklich schickes Auto, dass in meiner Heimat sehr heraussticht. Das kann nicht von hier sein.
Die abgedunkelten Fensterscheiben versperren mir die Sicht hinein.
Ich frage mich, was der Wagen hier sucht.
Aber ich gehe weiter, denn mich soll soetwas nicht kümmern.
Die Arbeit ruft.

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AleniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt