Alenia

Kapitel 27

Crecer
(Wachsen; sich entwickeln)

Seine Augen flackern auf. Er sieht  mich eine Weile an, als würde er auf etwas warten. Oder täusche ich mich?
Auf jeden Fall ist diese Stille unerträglich. Niemand kann sagen, was er als nächstes tun wird. Ich rechne bereits mit dem schlimmsten. Ich meine, er gaukelt mir ständig vor, ich soll den Mund halten und nicht respektlos sein, dazu droht er mir noch ununterbrochen, sobald ich auch nur das kleinste von mir gebe. Und mir fällt nichts besseres ein, als ihn in die Hölle zu schicken. Toll gemacht. 

,,Das war alles?"

Mein.. mein Gehirn setzt aus.

,,Ich bezeichne dich als Hure. Und das einzige was du herauskriegst, ist 'fahr zur Hölle'?", macht er sich anscheinend über mich lustig. Ich dachte er würde mich wieder bedrohen... Oder mich direkt an seine hungrigen Wachmänner verfüttern. Alles mögliche ist mir in den Sinn gekommen. Alles, außer das. 
Ich meine, er ist nicht sauer?

Das ist doch nicht Samuel. Er würde nicht so komisch reagieren. Wo ist der Zorn, wo die Wut?

,,Alenia.", schnippst er mich aus meiner Trance.
Er stellt sich aufrecht hin und seufzt.

,,Ich hatte tatsächlich mehr erwartet.'' 

Ich verstehe ihn einfach nicht. Soll das ein Test sein? Wollte er wissen wie ich reagiere? Was bringt ihm das? Nachdem er mich ach so viele male daran erinnert hat, dass ich nichts Wert bin und ich mich ebenso nicht in der Position befinde, irgendwelche Widersprüche ihm gegenüber zu äußern, soll ich jetzt aufeinmal genau das Gegenteil tun? 

,,Du.. du sagst doch immer, ich soll die Klappe halten,.. nicht respektlos sein... und jetzt? Was sollte ich tun?'', versuche ich meinen Mut zu sammeln. ,,Dir eine Backpfeife geben?", fahre ich unsicher fort.

,,Zum Beispiel. Einfach wütend werden. Aber sogar das fällt dir schwer?", verschrenkt er seine Arme vor die Brust.
Ich zögere. Was zum Teufel ist nur los mit ihm? Das meint er nicht ernst. Als hätte er mir applaudiert, würde ich ihm eine Backpfeife geben. Hätte ich das wirklich getan, würde ich in einzelne Stücke zerhackt werden. Und nein, es fällt mir nicht schwer, sauer zu werden! Wir verstehen nur beide etwas komplett anderes darunter. Ja, ich schlage nicht um mich oder brülle wie ein Affe, aber das muss man doch nicht unbedingt!
,,Ich.. kann wütend werden!"
Er grinst. Wieso grinst er? Das verwirrt mich nur noch mehr. Er macht sich lustig über mich.. 

Und ihn lächeln zu sehen ist selten.. vorhin sind seine Mundwinkel hochgezuckt, nur das hatte eher etwas teuflisches an sich.. Aber das hier.. das amüsiert ihn, es macht ihm Spaß. 

Genervt und auch durcheinander runzle ich meine Stirn und schaue nur zu, wie unfassbar gut gelaunt er ist. Seine Stimmungsschwankungen sind enorm. Er soll sich ruhig weiter über mich lustig machen. Ich bin für so etwas leider nicht in der Stimmung. Ganz offensichtlich. 

,,Das nennst du wütend werden? Oh nein, ich zittere förmlich. Bitte tu' mir nichts.", grinst er jetzt noch breiter. So, das man seine perfekten weiße Zähne sehen kann. Er war bis jetzt noch nie so.. gut gelaunt. Sonst zeigt er keine Emotionen, ist dauer schlecht gelaunt und zieht immer ein langes Gesicht. Seine Blicke sind sonst immer so kalt und stumpf. 

,,Wieso wirst du jetzt rot?'', fragt er jetzt mit einem ernsterem Gesichtsausdruck, aber jeder Blinde kann erkennen, dass er immer noch amüsiert ist. Als würde er sein Lachen unterdrücken.

Das kann doch wohl nicht sein ernst sein. Er soll mich endlich in Ruhe lassen. Was für ein blöder Trottel. Er tut mir so viel Leid an, was nicht einmal mehr aufzählbar ist, und jetzt macht er sich wie ein Kleinkind über mich lustig. Ja, ich bin wahrscheinlich rot angelaufen, aber auch nur, weil ich mich schäme. 'Zieh dich um' sagt er zu mir.. Perversling! Beim nächsten mal werde ich sicher nicht nur einfach da stehen und nichts tun. Wenn er so unbedingt eine Backpfeife haben will, dann kann er die gerne kriegen. Hätte er mir das bloß früher gesagt. 

,,Warum willst du überhaupt, dass ich wütend werde?'', frage auch ich jetzt mit verschrenkten Armen vor der Brust und lenke davon ab, welche Farbe mein Gesicht eingenommen hat. Meine Stimme klingt wahrscheinlich piepsig, aber das ist mir momentan egal. Ich lasse mir das nicht gefallen.

Seine Mundwinkel zucken wieder ganz leicht hoch. Anstatt aber etwas zu sagen, kommt er wieder auf mich zu. 

Schon wieder fixiert er mich mit seinen Augen. Graue, helle Augen. Braune, weiche Haare. Markante Gesichtszüge. Mein Atem stockt, als er seine Hände links und rechts von mir auf den Tisch ablegt und mich somit umsingelt. Gottverdammt, kann er nicht einfach meine Frage beantworten?!

Er lehnt sich leicht zu mir runter. Bevor er redet, schaut er mich noch eine gefühlte Ewigkeit an. ,,Weil ich auf sowas stehe.'', raunt er mir in mein Ohr. Wieder diese unglaubliche Gänsehaut. Er schaut mir abwechselnd in die Augen. Als wolle er in ihnen sehen, wie ich auf ihn reagiere. Mein Blick trifft überfordert die Wand hinter ihm, in der Hoffnung, dass ich so dieser Situation entfliehen kann. Mein Herz fühlt sich an, als wolle es aus meinem Körper springen, so stark schlägt es gegen meinen Brustkorb. Wieso atme ich so schwer? Wieso macht er mich so nervös? Er.. er soll endlich gehen! Dafür haben wir keine Zeit. Ja, genau- Das ist reine Zeitverschwendung. 

,,Sieh mich an.'', spricht er jetzt mit festem Ton. Der Klang seiner Stimme ist tief und rau. Einfach einschüchternd. Sein Lächeln ist mir dann doch lieber. Ich wandere mit meinen Augen langsam in die Nähe seiner Schultern und starre dann auf seinen Hals. Das sollte genügen. Ich sehe ihn ja an. Ich will ihm nicht mehr in die Augen schauen.

,,Sieh mich an, Alenia.'', wiederholt er mit Nachdruck. Und ich gebe nach. Viel zu schnell, ja. Aber eine andere Wahl habe ich nicht. Gehemmt schaue ich ihm also in die Augen. 

 ,,Ich nehme dich übermorgen zu einem Treffen mit. Es ist zwar geschäftlich, aber der Mann möchte meine neue Frau kennen lernen, also wirst du mich begleiten.'', kommt er jetzt aufeinmal völlig vom Thema ab. Ich bin in Gedanken immer noch bei dem Part, an dem er mir gesagt hat, ich solle mich vor ihm ausziehen. ,,Wenn irgendwas schief läuft.'', fängt er an. ,,Und ich meine, egal was, dann werde ich dich nicht wie abgemacht nach Hause lassen.'' ,,Was?'', frage ich erschrocken. Was meint er damit? ,,Wenn du deinen Job richtig machst, lasse ich dich gehen. Wenn nicht, dann nicht.'', erklärt er kalt. Er kann das doch nicht so einfach entscheiden.. Das war so nicht abgemacht..! Seine Frau spielen und dann freigelassen werden. Das war die Abmachung. Und was bedeutet denn für ihn 'wenn etwas schief läuft'? Ich weiß nicht einmal, was ich da genau tun soll! Nur da sitzen und schön aussehen? Sicher nicht. ,,Hast du verstanden?'', fragt er wieder mit diesem distanzierten Blick. Diese ernste Miene. 

Ich nicke. Obwohl ich tausend Fragen habe. Wieso ich? Warum soll ich seine Frau spielen? Was hat er davon? Was soll dort schief laufen? Was darf ich sagen, was nicht? Darf ich überhaupt etwas sagen? Wie kann ich sicher gehen, dass er mich danach auch wirklich nach Hause lässt? Woher weiß ich, dass ich nicht dort verkauft werde? Ich kann.. und sollte Samuel schließlich nicht vertrauen. ,,Gut. Das Training geht weiter. Wechsel deine Hose und komm zurück in die Halle.'', löst er sich von mir und verlässt den Raum. Lässt mich sprachlos.. überfordert.. mit tausend Fragezeichen in meinem Kopf stehen. Hier sind binnen 10 Minuten so viele Dinge passiert. Und er tut wieder so, als wäre nichts geschehen.

Ich finde gerade einfach keine Worte. Ergibt das alles überhaupt einen Sinn?
Ich meine, wie bin ich überhaupt in diese Situation geraten? Noch vor kurzem habe ich bei meiner Familie gelebt und in einem Supermarkt gearbeitet. Und jetzt? Ich weiß nicht wirklich, was mit meiner Familie passiert ist.. was mit Ricardo passiert ist. Und mir vorzustellen, was er ihnen angetan haben muss.. lässt die Tränen wieder hochkommen.
Ich wurde benutzt und verarscht und dann will er auch noch, dass ich seine Frau spiele.
Ich bin kein Spielzeug. Das ist mein Leben und Samuel benimmt sich, als würde es ihm gehören. Aber das tut es nicht.
Das sollte ich ihm klar machen. Nur wie? Wäre es nicht dumm, jetzt noch Schwierigkeiten zu bereiten? Ihn sauer zu machen?
Wenn ich das tue was er sagt, lässt er mich gehen. Das hat er gesagt. Eine Versicherung dafür habe ich jedoch nicht. Er kann mir alles erzählen und es könnte gelogen sein.

Ich sollte ihn endlich zur Rede stellen. Auch wenn ich nicht will. Mal endlich Antworten aus ihm herausquetschen.
Ja das sollte ich.

Und das werde ich jetzt tun.

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