Kapitel 20

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Extraviado
(Verloren)

Die Waffe ist viel zu schwer und zu groß für meine zierliche Hand. Und trotzdem schaffe ich es, den Abzug zu betätigen. Meine Augen sind geschlossen, aber die Tränen schaffen ihren Weg hinaus.
Der Schuss ist laut und fügt meinen Ohren einen schmerzenden Piepston hinzu. Und der Druck will nicht verschwinden. Bin ich jetzt tot? Ich spüre keinen Schmerz. Nur Wärme.

,,Hör auf damit.", ertönt Samuels raue Stimme. Ich fühle den Boden unter meinen Füßen nur sehr leicht und ich weiß, dass keiner meiner Muskeln sich anstrengt. Als würde ich schweben. Vielleicht bin ich auch einfach nur gelähmt.
Immer mehr komme ich zu Bewusstsein. Langsam spüre ich auch seinen Arm um meinen Körper. Mit der einen Hand, hat er mich fest im Griff. Mit der anderen meine immernoch zitternden Finger, die soeben noch jegliche Kraft aufgebraucht haben, um abzudrücken.
Er nimmt mir die Waffe ab, die er kurz vor dem Schuss nach oben in Richtung Decke gezogen hat.
,,Hör endlich auf zu weinen.", sagt er leise. Sein Tonfall ist anders als sonst. Fast schon etwas bittend. Fast schon sanft und mitfühlend. Und beinahe genieße ich seinen Atem auf meiner Haut. Beinahe.

Ich möchte meine Augen öffnen und wieder auf meinen Beinen stehen. Aber ich kann nicht. Ich habe keine Kraft.

Als er die Waffe auf das Waschbecken legt, versuche ich ihn wenigstens von mir wegzudrücken. ,,Lass mich los.", sage ich weinerlich.

Er aber zieht mich näher an sich ran. So, dass nichtmal ein Blatt zwischen uns passen würde. Ich gebe schnell auf und lasse mich in seine Arme sacken.
Anstatt mich einfach loszulassen, hebt er mich über seine Schulter hoch und trägt mich aus dem Bad. Seine Hände umfassen mich, als würde ich jeden Moment zerbrechen.

Auf dem Bett legt er mich langsam ab.
,,Patròn! Wieso wurde ein Schuss gefeuert? Sollen wir hereinkommen?", rufen mehrere Männer durch die geschlossene Tür.
,,Fehlalarm. Ihr könnt gehen.", sagt Samuel laut. ,,Verstanden.", antworten sie hörbar irritiert, gehen aber trotzdem, ohne Samuel auch nur in Frage zu stellen.

Ich lege meine Hände auf mein Gesicht. Wie ein stückchen Elend liege ich auf diesem Bett. Gerade als ich dachte, ich hätte alldem endlich ein Ende setzen können.
Das piepende Geräusch macht mir immernoch zu schaffen. Mein Kopf dröhnt schrecklich.

Ich höre, wie Samuel sich von mir wegdreht und auch wenn es mir nichts bringt, stehe ich auf. Ich weiß nichteinmal wirklich, was ich vorhabe. Das einzige, was mir mein Inneres sagt ist, dass ich gefälligst nicht einfach nur daliegen soll.

Meine Beine sind schwach und ich sehe kleine schwarze Punkte, egal wo ich auch nur hinsehe.
,,Leg dich wieder hin.", befielt er wieder kalt und dreht sich zu mir um.
,,Ich dachte, du hasst Lügen? Du hast mir mal gesagt.. ich könne mich zwischen Leben und Tod entscheiden. Du... du hast gelogen!", versuche ich aufrecht zu stehen und nicht umzukippen.
,,Ich habe nicht gelogen. Ich habe dir die Möglichkeiten genannt, aber nie gesagt, dass ich es zulassen würde."

Ich lache spöttisch. Meine Nerven sind am Ende. ,,Lass mich endlich in Frieden!", schreie ich jetzt außer mir und hole hektisch nach Luft, was das Dröhnen in meinem Kopf nur noch verstärkt.
,,Leg dich hin, habe ich gesagt.", sagt er streng fordernd. Er kommt auf mich zu und bleibt dann kurz vor mir stehen. Es ist das gleiche Spiel, er möchte mich einschüchtern. Nur weiche ich nicht zurück, sondern starre hoch in sein Gesicht. Ich blende die ganzen Schmerzen, die mein Körper gerade durchläuft aus, und konzentriere mich daurauf, endlich stark zu wirken. Ich möchte mich nicht mehr wie ein Käfig fühlen.

Er ist breit gebaut, groß und könnte mich wirklich ohne große Anstrengung erledigen.
Er schaut auf mich hinab, auf dieses kleine zerbrechliche Mädchen, die einfach nicht aufhören will, zu flennen.

AleniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt