Kapitel 35

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Cuerra invisible 
(unsichtbare Leine)

Eine Stunde ist vergangen. Vermute ich. Ich habe mich keinen Zentimeter bewegt. Habe kein Wort gesagt. Wieso sollte ich auch etwas sagen? Diese Leute kann man doch sowieso nicht zur Vernunft bringen. Wenn es Alonzo schon nicht konnte, wieso sollte ich es dann können?

Stattdessen starre ich nur aus dem Wagen.

Hätten sie normal mit mir geredet, dann hätte ich schon nicht nein gesagt. Ich habe ja bereits mit dem Gedanken gespielt, mich freiwillig zu opfern. Denn egal welchen Ausweg uns Alonzo aufgetischt hätte, es wäre nie gut ausgegangen.

,,Jetzt leg die Flasche weg. Wir brauchen dich nüchtern! Daniel!", sagt er zu dem Dunkelhaarigen. Daniel heißt er also.

Die Fahrt ist ewig lang und ich frage mich, ob Alonzo mich schon sucht. Vielleicht schläft er aber auch noch.
Vermutlich sollte ich doch nicht so einfach aufgeben und nichts sagen.

,,Das ist dumm von euch.", sage ich etwas zu trocken und irgendwie nicht wirklich bei Bewusstsein.. Als hätte ich auch etwas getrunken. Das alles fühlt sich langsam einfach nicht mehr real an. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, wann es angefangen hat, sich so unrealistisch anzufühlen. So viel Pech kann ein Mensch nicht haben. Oder stecke ich in einem endlosen Albtraum? Ja, das kann sein.
Aber der Schmerz ist dafür viel zu echt und viel zu intensiv, als dass das alles ein Traum sein könnte. Oder?
Ach, was weiß ich.
Wie oft träume ich auch schon, dass ich jetzt einen Traum von der Realität unterscheiden kann?

,,Wie war das?"

,,Ihr habt euch das nicht gut genug überlegt."
Ich starre wie eine Leiche aus dem Fenster. Woher kommt mein Mut, so trockene Bemerkungen zu machen?

Daniel lacht. ,,Achja?"

,,Wenn ihr denkt, dass ihr mich als Geisel nehmen könnt, um eure Freunde zu befreien, ohne Konsequenzen davon zu tragen, dann tut mir das leid." Meine Stimme ist monoton. Diese Situation sollte mich zum weinen bringen. Ich weine doch so oft. Doch aus welchem Grund auch immer, bin ich einfach nur leblos.

,,Ich werde ihn in den Kopf schießen, so wird das aussehen.", antwortet Daniel schlagfertig und nimmt einen weiteren Schluck von seinem Bier. Es ist die vierte Flasche.

,,Denkt doch mal nach. Er erwartet euch bereits. Drei Leute sollen gegen wie viele kämpfen..? 50..? 100..? Oder 1000..? Das ist euer sicherer Tod.", bringe ich relativ selbstsicher rüber.

,,Hast du ne bessere Idee, kleine Schlampe?" 
Ich ignoriere seine Beleidigung.

,,Lasst mich zuerst mit ihm reden... Alleine."

Daniel lacht laut auf. Seine Alkoholfahne verbreitet sich im ganzen Wagen. Die anderen beiden hören scheinbar aufmerksam zu.

,,Und du glaubst, dass 'reden' uns etwas nutzen wird? Mh??"
Er setzt sich neben mich und greift meinen Kopf.
,,Du denkst-", fängt er plötzlich an meinen Kopf mit voller Wucht gegen die Fensterscheibe zu schlagen. Meine Hände sind verbunden und ich kann den Aufprall nicht verhindern.
,,Dass das-", lässt er meinen Kopf nicht los und schlägt ihn erneut, nur diesmal mit mehr Kraft gegen die Fensterscheibe. Es fühlt sich so an, als würde er mir jeden Moment meinen Schädel aufschlagen. Erneut.
,,-Uns etwas nützen wird!? Huh?!", schlägt er dann ein letztes mal zu und zieht meinen Kopf an den Haaren nah an sein Gesicht. Es wundert mich, dass das Fenster nicht schon zerbrochen ist.
Es wundert mich, dass mein Kopf nicht schon zerbrochen ist und dass ich nicht schon mein Bewusstsein verloren habe. Einzelne, warme Tränen fließen meine Wange hinunter.
Mein Kopf dröhnt, meine Augen wegen dem Schwindel nicht mehr zuverlässig. Alles dreht sich. Alles ist verschwommen. Mir ist schlecht. Ich bekomme nichts raus, außer ein kleines, unauffälliges wimmern. Der Schmerz ist nicht auszuhalten, aber nicht deswegen verliere ich Tränen. Eher aus Frustration und Hilflosigkeit.

AleniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt