Kapitel 60: Die Wahrheit kann weh tun

636 33 2
                                    

Kapitel 60: Die Wahrheit kann weh tun

"Ich weiß nicht, was ihr gegen mich habt, ich habe euch nie etwas getan. Ihr wisst nicht, wie sehr mich eure Worte verletzen und ihr wisst auch nicht, was ich schon alles durchgemacht habe." Die Mädchen schauten sich kurz an. "Selbst eure doofen Blicke können weh tun. Ihr wisst nicht, was andere schon erlebt haben, denen ihr ebenfalls schlimme Wörter an den Kopf knallt und ich finde es nicht in Ordnung." Ich machte eine Pause und setzte mich anders auf den Stuhl, denn meine Narbe von der OP tat weh. "Wisst ihr, wie es ist, Angst zu haben in die Schule zu gehen, weil ihr wisst, was wieder auf euch zu kommen wird? Ich rede nicht von Klausuren, weil man nicht gelernt hat oder weil ihr schlechte Laune oder gar keine Lust auf Schule habt. Es ist eher, weil ihr wisst, dass dort welche auf dich gezielt warten, um dich zu verletzen."

Hanna starrte mich weiterhin an und Josephine schaute auf den Blumenstrauß, der auf dem Tisch stand. "Ich kam mit Acht Jahren nach Deutschland, nachdem meine Mutter starb und mein Vater abgehauen ist. Ihr wisst nicht, wie es ist, in einem völlig fremden Land zu sein, eine neue Sprache zu lernen und nebenbei noch ein Trauma zu verarbeiten. Ihr habt keinen, ihr kennt keinen und zieht euch nur noch zurück. Ihr redet nicht, ihr wollt nichts essen, nicht schlafen und habt fiese Gedanken. Und dann kommt ihr auf eine neue Schule." Ich sah, dass Josephine weinte und auch Hanna schluckte die Tränen weg.

"Habt ihr nur ein einziges mal daran gedacht, was ihr mit euren Sprüchen und Blicken anrichtet? Lasst mich raten: Eher nicht, oder? Denkt lieber zweimal nach, bevor ihr handelt oder redet und ich sage euch eines; und das ist keine Drohung: sollte ich nur ein einziges mal sehen, wie ihr andere weiterhin Fertig macht, dann solltet ihr euch lieber dreimal umsehen, bevor ich etwas dagegen mache." Das schwarzhaarige Mädchen wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Ich hoffe sehr, dass ihr jetzt mehr versteht, als vorher. Und bitte; bitte entschuldigt euch bei allen, die ihr je verletzt habt. Ihr wisst nicht, was für Gedanken man haben kann, wenn man gemobbt wird."

Mit meinem letzten Wort stand ich vom Stuhl auf und schaute beide noch einmal an. Dann ging ich aus der Tür. Nun stand ich auf dem Menschenleeren Flur und fing an zu Weinen. Es hat mir mehr Kraft gekostet als gedacht, diese Worte auszusprechen, ohne zu weinen. Es war so schwer, denn ich wusste nicht, ob ich es schaffe, sie über die Lippen zu bringen.

In meinem Zimmer angekommen - ich hielt mit meiner Hand meinen Bauch fest - ließ ich mich auf das Bett fallen. Die Tränen liefen einfach weiter, denn ich konnte sie nicht stoppen. Ich sah, wie sich dir Tür öffnete. Ich wischte mir schnellstmöglich die Tränen aus meinem Gesicht und setzte ein gefaktes Lächeln auf. Es war Herr Seehauser, mit einem Mädchen im Anhang. Sie hatte blonde kurz gestufte Haare und grüne Augen. Sie legte sich in das Bett neben mir und hörte Herrn Seehauser aufmerksam zu. Ich drehte mich auf die linke Seite und schaute aus dem Fenster. >Ich hoffe, meine Worte haben etwas bewirkt. Wenn nicht, dann weiß ich auch nicht weiter.<

"Mirella? Alles Ok bei dir?" Hat er mich gerade angsprochen, obwohl ich ihn vorhin so angebrummt habe? Ich gab nur ein leises 'mh' als Antwort. "Möchtest du reden?" Ich schüttelte meinen Kopf. "Du weißt, wo du mich findest." Ich hörte die Tür zufallen. "Hi, ich bin Giuliana." Zu versuchen sie zu ignorieren, gelang mir wenig. "Kann ich dir irgendwie helfen?" Ich drehte mich in ihre Richtung und schüttelte den Kopf. "Nein, trotzdem Danke." Ich rutschte im Bett nach oben, griff nach meinem Glas und trank es leer. Dann rutschte ich auf die Bettkante, stand auf und war im Badezimmer verschwunden.

Ich duschte, lang und ausgiebig, um irgendwie die Zeit zu überbrücken, damit ich schlafen gehen konnte. Es waren nur noch 11 Tage bis zur meiner Entlassung. Der 16. August rückte immer näher und je länger ich darüber nachdachte, fiel es mir immer schwerer. Es ist alles schon zur Routine geworden und ich weiß, dass ich das vermisse werde. Aber es half ja alles nichts. Nach dem Duschen wickelte ich mich mit einem großen Handtuch ein und holte mir neue Klamotten aus dem Schrank. Ich merkte, wie meine Bettnachbarin mir hinterher schaute.

Wieder im Bett schaute ich auf mein Handy. 15:23 Uhr. Was soll ich denn noch machen, bis ich schlafen gehen kann? Es ist noch zu früh dafür. Ich entschied mich, zu meinem behandelnden Arzt zu gehen. Die Narbe tat immer noch weh und ich musste beim Duschen aufpassen, dass nichts daran kam. Das Handtuch auf meinem Kopf nahm ich ab und hing es auf die Duschkabine zum trocknen, dann ging ich mit langsamen Schritten in Richtung seinem Büro und blieb in der Tür stehen.

BEENDET! Eines Tages - Frederik Seehauser - Klinik am SüdringWo Geschichten leben. Entdecke jetzt