BlutsMacht - Die Zeremonie

Kapitel LXX

Der Gemeinschaftsraum kam in Sichtweite am Ende des Flurs. Die Zeremonie war anscheinend vorbei, denn ihre Klassenkameraden wankten nacheinander in den Aufenthaltsraum. Sie redeten aufgeregt miteinander.
Trina blieb stehen.
Sie hatte keine Lust ihre Zeit mit diesen ganz frischen Vampiren zu verbringen.
Der Letzte, Ian betrat den Raum und machte die Tür hinter sich zu. Ihr Fehlen schien gar nicht aufzufallen, denn die Tür blieb geschlossen. Auch nach fünf Minuten noch.
Schulternzuckend drehte sie sich um und überlegte, wohin sie jetzt gehen sollte. In ihr Zimmer? Zu Lucien? War er überhaupt noch im Schloss? Sie entschied sich für ihr Zimmer. Wohin sollte sie auch sonst? Das Leben im Schloss war langweilig. Nur noch ein Jahr, dann kann ich machen, was ich will, dachte sie und wollte die Tür ihres Zimmers aufschließen. Aber sie war schon offen. Hatte sie vergessen abzuschließen? Sehr unwahrscheinlich. So etwas vergaß sie nicht.
Langsam öffnete sie die Tür und schielte hinein.
Was sie erblickte, war erschreckend.
Sie riss die Tür auf und stürmte ins Zimmer. Auf ihrem Bett lag Kendrick, schwer verwundet. Auf dem Boden lagen seine Klamotten, voll mit Blut, so wie einige Handtücher, die ebenfalls blutdurchtränkt waren.
Sie stürzte auf ihn zu. Sein entblößter Oberkörper blutete aus drei großen Wunden.
"Oh Gott, Kendrick... Was ist passiert?"
Er öffnete die Augen und wollte etwas sagen, doch er brachte lediglich ein Husten zustande. Trina eilte zur Tür und warf sie zu, dann lief sie ins Bad, holte noch ein paar Tücher und anschließend zurück zu Kendrick. Er stöhnte vor Schmerz. Sie legte auf jede Wunde ein Tuch und drückte sie fest an. Eins presste sie mit dem Unterarm an. Dann fragte sie noch einmal, was passiert war. Kendrick drehte sein Kopf zu ihr und flüsterte sehr leise: "Verräter... Niemanden trauen!... Aharon, Schule... Angriff-sehr bald!"
Danach schloss er seine Augen wieder und atmete sehr schwer. Sie überlegte, was sie jetzt machen sollte. Mr. Morlet aufsuchen? Aber Kendrick sagte doch niemandem trauen. Sollte sie Blut für Kendrick besorgen? Sie entschied sich ihm erst einmal ihr Blut zu verabreichen. Dazu nahm sie die Hand von der einen Wunde und biss sich in die Ader am Handgelenk. Das blutende Handgelenk hielt sie Kendrick an den Mund. Er öffnete ihn etwas, als er das Blut an seinen Lippen merkte und trank von ihr. Gierig sog er das heilende Blut aus ihrem Handgelenk. Es schien ihn tatsächlich etwas zu kräftigen, denn, als er fertig mit Trinken war, öffnete er die Augen. Sein Blick war jetzt klarer.
"Du musst meine Wunden ausbrennen. Sonst verliere ich noch mehr Blut. Die Waffe war mit Silberpulver bestäubt, meine Wunden heilen nicht von alleine", sagte er leise mit zittriger Stimme.
Ausbrennen? Spinnt er?, dachte sie und fragte aber: "Wie?"
"Du brauchst eine Flamme und etwas aus Metall. Erhitze das Metall und drücke es in eine Wunde. Und beeil dich bitte...", bat er sie und hustete Blut.
Gut. Sie sah sich um, Kerzen hatte sie genug, nur etwas aus Metall fehlte. Hastig durchstöberte sie jede Schublade und fand schließlich in ihrer Schatzkiste den Löffel, den sie als Baby bekommen hatte und auf dessen Stiel ihr Name eingraviert war. Sie umwickelte den Stiel mit einer Ecke eines Handtuches und hielt den Löffel in eine brennende Kerze. Nach einer Minute nahm sie ihn aus der Flamme und warnte Kendrick: "Das wird jetzt vermutlich sehr wehtun..."
Und drückte das heiße Eisen in die am stärksten blutende Wunde. Kendrick gab einen unmenschlich klingenden Laut von sich, der Trina das Blut in den Adern gefrieren ließ. Doch sie wartete noch einige Sekunden, ehe sie den Löffel wegnahm. Kendrick zitterte wie Espenlaub, doch die Hitze hatte tatsächlich die Blutung gestoppt.
"Nur noch zweimal, Liebster", sagte sie und hielt den Löffel wieder in das Feuer. Mit der anderen Hand streichelte sie ihm über den Kopf.

Nach dem Ausbrennen brachte sie die blutigen Sachen in die Wäsche, schloss die Vorhänge und ließ Kendrick sich ausruhen. Sie wollte zu Mr. Morlet. Er war der Gründer dieser Schule und somit schied er, ihrer Meinung nach, als Verräter aus.

Zuerst versuchte sie es in seinem Büro, doch dort war niemand. Dann machte sie sich auf den Weg zu Mr. Morlets Quartier. Das Schloss wirkte wie ausgestorben und es herrschte eine seltsame, kalte Atmosphäre. Auf das Klopfen an der Tür von Mr. Morlets und Mrs. McLeans Quartier reagierte niemand, deswegen beschloss sie es im Gemeinschaftsraum ihrer Klasse zu versuchen. Aber auch hier, Fehlanzeige. Es war keiner mehr hier.
Wahrscheinlich haben sie die Feier in den Keller verlegt, dachte sie und vertagte ihren Besuch beim Schulleiter. Sie wollte Kendrick nicht noch länger allein lassen, also eilte sie zurück in ihr Zimmer. Trina legte sich neben Kendrick und drehte seinen Kopf zu ihr. Er fühlte sich sehr kühl an, deswegen zog sie die Decke über sie beide. Sanft streichelte sie seine Wange. Er öffnete ein wenig die Augen und formte mit seinen Lippen das Wort Danke und schlief dann wieder erschöpft ein. Trina wachte noch einige Zeit über ihn und schlief dann ebenfalls ein.

Als sie aufwachte war es stockdunkel um sie herum. Kendrick lag nicht mehr neben ihr und im Zimmer herrschte eine angespannte Stimmung. Ähnlich wie vorhin auf den Fluren. Was war hier los? Sie spürte Gefahr. Rasch setzte sie sich auf und zuckte erschrocken zusammen, als sich eine Hand auf ihren Oberschenkel legte. Die Hand streichelte sie. Es musste Kendrick sein. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte seine Silhouette vor ihr. Er saß angespannt da. Von ihm ging keine Gefahr aus. Irgendjemand anderes musste im Zimmer sein.