06 | favorite place

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JULIA

Über dem Eingang des kleinen Bastelladens mit dem Namen Made by Earl, bimmelte eine Glocke, als ich die rustikale Tür öffnete.

»Schön, dass du wieder vorbei schaust, Julia!«, grüßte mich Earl, der Besitzer des Ladens. 

Er war fast fünfzig. Seine grau-braunen Haare reichten ihm normalerweise bis zu den Schultern, allerdings trug er meistens einen niedrigen Pferdeschwanz. Seine Kleidung erinnerte mich oft an die eines Mannes, der als Einsiedler alleine im Wald lebte und den ganzen Tag nur meditierte.

Ich liebe es.

Earl führte dieses Geschäft schon ewig. Sogar so lange, dass er mich und Grace oft hier zusammen gesehen hatte, als wir noch klein waren. Und schon seit damals war es mein Lieblingsort in dieser Stadt. Hierher führte mich jedes Mal mein Weg, sobald ich neue Pinsel, Leinwände, Farben oder andere Utensilien fürs Malen brauchte. Aber auch Bastelzeugs wie Papier, Wolle, Stoff, Glitzer, Knöpfe oder Klebstoff. All das kaufte ich bei ihm schon haufenweise.

Genau wie ich, widmete sich Earl ab einem gewissen Zeitpunkt dem kreativ sein. Durch das Malen oder Basteln, konnte er alles andere in dieser Welt stummschalten. Er war derjenige, der mir damals zeigte, wie man unterschiedliche Malrichtungen richtig ausführte. Earl brachte mir vieles beim Malen bei, wofür ich ihm ewig dankbar sein würde.

Ich selbst hätte nie behaupten können, dass das Malen mein Talent war. Mit den Jahren wurden meine Motive ordentlicher und detaillierter und vielleicht sogar besser, aber mir ging es dabei nie ums gut sein. Kunst war subjektiv, so also auch meine. Jeder interpretierte etwas anderes in den unterschiedlichsten Kunstwerken. Das Grübeln über Motive gefiel mir genauso sehr wie das eigentliche Arbeiten mit einem Pinsel oder Stift.

»Hey, Earl. Ich hab dir was mitgebracht.« Sobald ich mich dem Tresen tanzend näherte, lächelte Earl glücklich. »Das hier ist für dich«, sagte ich und stellte ihm eine kleine weiße Papptüte auf den Tresen.

»Ist das etwa ...?« Seine grünen Augen leuchteten während er grinste. Sein Lächeln fand ich schon immer besonders, denn wenn er lächelte wurden seine Augen ganz schmal. Mit den Lachfalten drumherum sah das einladend und aufrichtig aus. »Du bist zu gnädig.« Er griff in die Tüte und zog einen Schoko-Donut mit Bananen Füllung hervor.

In der Nähe vom Made by Earl, lag ein kleines Café, bei welchem ich ständig Kaffe und einen Snack für Earl kaufte. Zufälligerweise wusste ich, dass dieser Donut sein Liebling war.

»Vielen Dank, Julia. Du kennst mich so gut!« Seine Stimme war tief und etwas kratzig, was mir aber gut gefiel. Sie strahlte viel Wärme aus. Sobald er in den Donut biss, seufzte er zufrieden. Schnell zeigte er einen Daumen hoch und nickte heftig. Ein paar Schoko-Krümel blieben in seinem grauen Bart hängen. »Danke«, wiederholte er.

»Kein Problem.«

»Wie geht es deiner Familie?«, fragte er mich aufrichtig.

»Alles beim alten. Grace hat immer noch viel zu tun ... Finn ist so aufgekratzt wie sonst auch und Mom braucht dringend mal wieder ein Date.«

»Sträubt sie sich weiterhin so dagegen, jemand neues kennenzulernen?«, hakte er nach, bevor er seinen Donut komplett verputzt hatte.

Ich stieß ein verächtlichem Laut aus. »Das ist noch eine Untertreibung. Sie ist stur und meint aber, dass sie niemanden braucht.«

»Jeder Mensch braucht früher oder später einen Liebenden um sich herum«, war er der Meinung.

»Meine Worte!«

Fears Between UsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt