Cress traf die zukünftige Königin im Wintergarten der Villa. Sie kannte ihren Namen, weil er immer wieder gefallen war in den Absprachen, in den Strategien, die Nico, Julian und Finja besprachen. Mal war sie eingeladen gewesen, mal hatte sie heimlich gelauscht, aber in beiden Fällen war diese Frau immer wieder erwähnt worden. René tut dies, René wird sich darum kümmern, überlass das René. Wer auch immer Cress in ihrem vergessenen Leben gewesen war, René hatte Victorias Platz eingenommen. Die junge Frau hatte es nicht nötig, sich vorzustellen, weil an ihrer Hand ein gigantischer blauer Diamant funkelte. Der Alessandrini Ring, den Nico gemeint hatte. Cress war eine Expertin für wertvolle Dinge, schließlich ging bei den Clubs genug Hehlerware über den Tisch. Als sie zum ersten Mal unbeobachtet und gelangweilt gewesen war in diesem Haus, hatte sie außerdem sämtliche Schubladen durchsucht, die sie finden konnte. Nichts von den Dingen, die sie dort gefunden hatte und nichts anderes, was sie in ihrem Leben gesehen hatte, konnte an Wert mit diesem Ring konkurrieren. Er hatte dieselbe Farbe, wie die Iriden der Frau, die ihn trug. Sie schien Cress aus drei tief blauen Augen zu beobachten, eines davon an ihrer Hand. Nicht hässlich wie eines der mystischen Wesen aus der Tiefe, aber in dieser Welt genauso bedrohlich. René de Chirouelle-Avalinis, hieß sie. René lächelte sie an, aber ihre drei Augen blieben kühl. Kühler als die Männer es waren, kühler als Finja.
„Hallo Victoria", sagte sie und der fremde Name rollte über Cress hinweg, wie eine Welle. Das war Macht, dachte Cress. Das war die Aura, die auch die Herzdame umgab. Man wusste von dem Moment, in dem man in die Blicklinie dieser Frauen trat, dass man getestet wurde.
„Mein Name ist ..."
Sie führt den Satz nicht zu Ende, denn René lächelte und es irritierte Cress zutiefst. Es war das Lächeln einer politischen Gegnerin mit einem Ass im Ärmel. Julians Verlobte musterte sie von Kopf bis Fuß. Der Kristall um ihren Hals, die Haare, die Statur. Cress hob das Kinn höher, fühlte sich aber, als würde sie etwas zusammensinken unter dem Blick.
„Sterne", sagte René und das Wort hatte Gewicht. Mehr sagte sie nicht. Nur dieses ungläubige Anrufen der Götter. Sterne. Draußen im Garten waren plötzlich Stimmen zu hören und Cress sah kurz hinaus, um zu prüfen, ob schon jemand zu sehen war. Sie würden wohl nicht lange allein bleiben.
„Wir kannten uns", stellte Cress fest.
René ballte die Hand mit dem Ring zur Faust und Cress war sich nicht sicher, ob sie sich unwohl fühlte oder ob sie sich wünschte, ihr mit dem Diamant den Schädel einzuschlagen. Was vermutlich funktionieren würde, schließlich war auch René am gleichen Ort ausgebildet worden wie Julian und Nico.
„Du hast mich vor einem grausamen Mann gerettet, als ich ein Kind war", sagte René. „Dann hast du den ersten verführt, der mich je geliebt hat, als wir Jugendliche waren."
Cress lief ein Schauer über den Rücken. René hob eine filigrane Teetasse an ihre Lippen und trank einen Schluck. Dann setzte sie nach:
„Und dann hat deine Familie es eingefädelt, dass der König dich mit Julian verlobt, nicht mich."
„Ich weiß nichts davon, aber es klingt, als wäre eine Entschuldigung angemessen."
René lachte perlend und kühl auf.
„Nein, das meine ich nicht. Du hast mich vor dem König gerettet. Zweimal."
Der grausame Mann war also Julians Vater gewesen. Cress konnte sich nicht erklären, wieso sie ihr das sagte, aber wie Julian schien auch René sich schuldig zu fühlen. Victoria musste viel getan haben für ihre Freunde, um solche Loyalität zu verdienen.
„Männer haben dein Leben genauso in den Händen gehalten wie meins", sagte René, auf deren Gesicht nun die Sonne fiel. „Jetzt denken sie, du bist tot und ich bin doch an der Seite des Königs."

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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science-Fiction"Ich habe dich geliebt, wie Zerstörung Königreiche liebt." In den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den...