Cress musste sich das Lachen verkneifen, sobald sie aus Nicos Zimmer trat. Sie presste sich die Hand vor den Mund und tapste zurück den Gang hinunter. Vor unterdrückter Belustigung stiegen ihr Tränen in die Augen. Sein Gesichtsausdruck war Gold wert gewesen. Sie fragte sich, ob er schon einmal so geschockt dreingeschaut hatte. Sie hätte noch etwas dicker auftragen können, sich etwas mehr hinein lehnen können in die Rolle, aber sie war zufrieden.
Den Plan hatte sie geschmiedet, während sie einmal mehr alleine Abend gegessen hatte. Nach dem Chaos, mit dem das letzte Treffen begonnen hatte, war klar, dass Nico zu aufgewühlt war, um klar zu denken. Cress hätte am liebsten alle von ihnen bei den Schultern genommen und geschüttelt, aber bei Nico war es am schlimmsten. Jemand hatte es tun müssen und da keiner seiner Freunde in einer guten Position war, hatte Cress es selbst in die Hand genommen. Sie brauchten Nico für das, was sie vorhatten. Dass er vor Wut auf Julian fast platzte und diesen sogar öffentlich untergrub, würde niemandem etwas nutzen. Jetzt hatte er die Wahl gehabt, hatte sich rächen können, indem er mit ihr schlief, obwohl Julian offensichtlich noch an ihr hing. Sie hätte nicht im Traum gedacht, dass er auf ihr Angebot eingehen würde und genau so war es gekommen. Wenn er es getan hätte, wäre auch nicht viel kaputt gegangen. Bis auf Nicos Zähne möglicherweise. Männer.
Cress hatte den verräterischen Gedanken niedergekämpft, dass es ihr vielleicht ganz Recht gewesen wäre bei ihm zu bleiben. Bei Nico musste sie sich keine Gedanken darum machen, dass er sie mochte. Sie musste nicht auf ihn acht geben und er würde das umgekehrt genauso wenig tun. Er hätte nur seinen Herzschmerz gedämpft. Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, die René und Julian hießen. Cress wandte sich in Richtung ihres Zimmers. Sie hatte Nico gezwungen, sich zu entscheiden. Er hatte sich für seine Freunde entschieden, obwohl diese ihn verletzt hatten. Cress respektierte ihn dafür. Nicht viele hätten sie weggeschickt.
Auf der anderen Seite der Galerie fiel Licht durch einen Türspalt. Cress sah sich nach allen Seiten um, bevor sie hinüber ging. Vermutlich eine weitere nächtliche Taktikbesprechung, zu der sie nicht eingeladen war. Obwohl Nico ja auch schlief, beziehungsweise geschlafen hatte. Es war Finjas Arbeitszimmer, also vielleicht schrieb sie wieder Briefe. Die Richterin tat das auffällig oft und Cress hatte mehrere aufgebrochen, gelesen und wieder versiegelt, nur leider war nichts spannendes darunter gewesen. Nur ein Brief an ihren Vater, den Cress nicht verstand. Sie lehnte sich an den Türrahmen, bereits darauf gefasst, sich zu Tode zu langweilen und linste in den Raum hinein. Erst sah sie nur Schemen, dann hörte sie Julians Stimme. Und die eines weiteren Mannes. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt weiter. Cress blinzelte ins Licht. Dann riss sie die Augen auf.

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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Fiksi Ilmiah"Ich habe dich geliebt, wie Zerstörung Königreiche liebt." In den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den...