>>Sie wird wach! Sie wird wach! Hol einen Arzt!<<, schrie eine aufgeregte Frauenstimme mit starkem Akzent und zerstörte damit das romantische Ambiente im Restaurant, in dem ich mit meinem Freund saß. Gerade kam der Ober an den Tisch, um das Dessert zu servieren. Es war Tiramisu, mein Lieblingsdessert. >>Beruhig dich Vika, du erschreckst sie noch<<, versuchte eine Männerstimme, die denselben mir unbekannten Akzent hatte, die Vika-Stimme zu beruhigen. Langsam verblasste das Restaurant, zusammen mit allem, das sich darin befand, also leider auch inklusive dem leckeren Tiramisu. Schließlich wurde mir klar, dass das alles leider nur ein Traum gewesen war. Sobald diese Information in meinem Gehirn angekommen war, holte mich die Realität ein. Unter meinem Körper spürte ich ein kratziges Bettlaken, die Luft roch nach Desinfektionsmittel, unbarmherzig helles, weißes Licht drang durch meine Augenlider und neben mir hörte ich ein stetiges, hohes Piepsen. Meine Alarmglocken schrillten, alles deutete darauf hin, dass ich im Krankenhaus lag. Aber wie war ich hier her gekommen? Das letzte, an das ich mich erinnerte, war das Lachen meiner Mom. Sie lachte über einen von Dads Witzen, die keiner verstand. Sie war die einzige, die jemals über sie lachte. Doch vielleicht war das so, wenn man einen Menschen so sehr liebte, wie sie meinen Vater liebte. Nach dieser Erinnerung war alles wie ausgelöscht. Um herauszufinden, was in der Zeit zwischen dieser Erinnerung und meinem Erwachen passiert war, musste ich wohl oder übel die Augen öffnen. Also hob ich meine vom Schlaf schweren Lider und blickte in fünf erwartungsvolle Gesichter. Die blonde Frau mit den marineblauen Augen musste Vika sein, da sie die einzige Frau in diesem Raum ohne Krankenhauskleidung war. Aus ihrer vorherigen Reaktion hatte ich geschlossen, dass sie auf gar keinen Fall eine Ärztin oder Krankenschwester sein konnte. Der braunhaarige, grünäugige Mann war wahrscheinlich der, der Vika beruhigt hatte. Er war auch der einzige Mann im Raum. Die restlichen Leute waren dann Krankenhauspersonal. Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder, räusperte mich und krächzte schließlich: >>Wieso bin ich hier?<< Vika fing an zu schluchzen: >>Oh Kind...<< Doch eine Krankenschwester fiel ihr ins Wort: >>Du und deine Eltern hatten einen Autounfall, Rosanna. Du lagst zwei Wochen im Koma, weil es Komplikationen gegeben hat, aber deine Eltern haben den Unfall nicht überlebt.<< >>Was?>>, mehr als flüstern konnte ich nicht, während mir stumme Tränen über die Wangen liefen, die ich sofort erschrocken wegwischte. >>Wir können später darüber reden, aber jetzt solltest du dich erstmal weiter erholen, Süße<<, meinte Vika. Ich schaute sie mir noch einmal genau an, doch ich konnte sie nicht einordnen, also schluckte ich die Tränen, die bisher noch nicht ganz verschwunden waren, fürs Erste hinunter und fragte: >>Entschuldigung, aber kennen wir uns?<< Nun sprach der braunhaarige Mann: >>Nein, noch nicht. Das hier ist deine Tante Vika, die Schwester deiner Mutter, und ich bin dein Onkel Scott, ihr Ehemann. Wir sind extra aus Schottland angereist, um dich zu uns zunehmen.<< Daher kam also der Akzent und nun erinnerte ich mich tatsächlich, meine Mutter hatte einmal von ihrer Familie in Schottland gesprochen. Meine Tante hatte die erste Hälfte ihrer Kindheit in Deutschland gelebt, dann war sie, nach der Trennung meiner Großeltern, mit meinem Opa nach Schottland gezogen, während meine Mutter mit meiner Oma in Deutschland geblieben war. Mein Onkel hatte Germanistik studiert, daher sprachen beide sowohl Englisch als auch Deutsch. >>Nun ja, Gott sei Dank bin ich gut in Englisch, sonst hätten wir jetzt ein Problem, nicht wahr?<<, versuchte ich die Situation mit ein wenig Humor aufzulockern. Vika schaute verdutzt: >>Du darfst ruhig weinen Kind, immerhin sind deine Eltern gestorben.<< Ich lächelte: >>Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich nicht weinen soll, wenn etwas Trauriges passiert. Ich soll immer nach vorne blicken, die schönen Erinnerungen in mein Herz einschließen und für die traurigen kein Wasser verschwenden. Und ich habe mich immer an den Rat meiner Mutter gehalten.<< Jetzt kicherte Vika: >>Weißt du, du bist wie sie. Der Charakter, das Gesicht, das jeden sofort in seinen Bann zieht, und natürlich diese wunderschönen, roten Haare. Ich habe sie immer darum beneidet, dass sie diese außergewöhnlichen Haare geerbt hatte, während ich diese ganz normalen, blonden Haare bekommen hatte. Allerding waren ihre Haare etwas normaler als deine, aber vielleicht haben sie sich ja in den letzten Jahren verändert. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, hatten keinen Kontakt mehr.<< Ich nickte: >>Ja, mein Vater hat immer, wenn mein Haar im Wind herumflatterte gesagt, ich solle jetzt bloß nicht zu nahe an etwas aus Holz kommen, sonst würde es noch Feuer fangen. Die Haare meiner Mutter hatten tatsächlich eine andere Farbe als meine, normaler, aber sowas kommt manchmal vor.<< Vika prustete los, als sie den Scherz meines Vaters hörte, doch Scott schien die Welt nicht mehr zu verstehen, aber er versuchte zumindest mitzureden: >>Aber diese grauen Augen müssen von deinem Vater stammen.<< Ich nickte bestätigend, obwohl auch hier Unterschiede vorhanden gewesen waren, dann fragte ich die Ärztin, die bisher noch nichts gesagt hatte: >>Was habe ich noch für Verletzungen, also bis auf die, die mich ins Koma geschickt hat? Wann darf ich gehen?<< Sie blickte mir prüfend ins Gesicht: >>Zuallererst sollte ich dich darüber aufklären, dass du nicht aufgrund einer Kopfverletzung ins Koma gefallen bist, sondern, dass wir vermuten, dass dies eine allergische Reaktion auf eines der Narkosemittel war. Es handelt sich hierbei um ein gängiges Mittel, von dem wir nicht erwartet haben, dass es eine solche Reaktion hervorrufen könnte. Nun, außer der Platzwunde an der Stirn, die schon fast verheilt ist, hast du noch leichte bis mittlere Schnittverletzungen an Armen, Beinen, dem Oberkörper und der Kopfhaut, einige Prellungen und Hämatome, eine Fraktur der rechten Elle sowie des rechten Handgelenks und eine Oberschenkelfraktur des linken Beins. Außerdem liegt eine Fraktur des dritten Rippenbogens vor, der den rechten Lungenflügel perforiert hat. Bei der Notoperation vor zwei Wochen konnten wir ihn jedoch gerade noch retten. Zudem haben wir bei dir eine Milzruptur festgestellt, die wir ebenfalls operativ versorgen mussten. Sie ist aber schon so gut wie verheilt, wir konnten deine Milz also erhalten. Morgen werden wir dich von der Intensivstation auf eine normale Station verlegen und in voraussichtlich einer Woche darfst du nach Hause gehen. Aber jetzt brauchst du erstmal ein wenig Ruhe.<< Ich nickte brav und alle wurden aus meinem Zimmer vertrieben, sodass ich ganz allein mit meinen Gedanken war. Es stimmte, meine Mutter hatte gesagt, egal wie schlimm das Geschehene ist, blick' nach vorne und weine nicht, denn bald wird etwas Wunderbares, Unvorhersehbares passieren, aber wenn du weinst, wirst du diese Sache durch den Tränenschleier nicht erkennen können und sie wird an dir vorbeiziehen, ohne dass du sie bemerkt hast. Also weinte ich nicht um meine Eltern, sondern ließ im Stillen die schönsten Momente mit ihnen vor meinem geistigen Auge Revue passieren und schloss sie dann in meinem Herzen ein, um sie, wann immer ich wollte, wieder hervorholen zu können. Doch auch wenn ich nach außen unverändert blieb, veränderte ich mich. In meinem Herzen breitete sich eine undurchdringbare Stille aus, von der ich wusste, dass sie mich nicht so schnell verlassen würde. Denn diese Stille sickerte aus den Wunden, die der Verlust meiner Eltern dort hinterlassen hatte. Das war wie bei einer sehr tiefen Wunde, man konnte das herausfließende Blut zwar immer wieder abwischen, aber wenn man die Wunde nicht zunähte, würde immer mehr Blut nachkommen und das Abgewischte ersetzen. Leider hatte ich keine Ahnung, wie man diese Wunden verschließen konnte. Außerdem hatte ich Angst, Angst, dass ich meine Eltern vergessen würde, wenn diese Wunden und der Schmerz, den sie mit sich brachten, nicht mehr wären. Auf gar keinen Fall wollte ich meine Eltern jemals vergessen! Der Schmerz hatte noch eine wichtige Funktion: er zeigte mir, dass ich noch lebte und innerlich noch nicht völlig leer war!
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Feen der Elemente
FantasyRosannas Eltern sterben bei einem Autounfall, den sie schwer verletzt überlebt. Ihre einzigen Verwandten leben in einem Vorort von Portree, der Hauptstadt von Skye. Dort lernt sie den attraktiven Logan kennen, der sie total verrückt macht, obwohl si...