Kapitel 81 - Inspektion

28.7K 2.4K 950
                                    

„Harry", sage ich entsetzt und fahre erneut über diese Stellen. Sie sind länglich und ... tief.

„Ja", sagt er mit ruhigem Ton. „Narben."

Fassungslos sehe ich ihn an. Er sagt es mit solch einer Ruhe, dass es mich beinahe beängstigt. „Wovon?", frage ich ihn leise.

„Von meinen Eltern."

„Ja", gebe ich niedergeschlagen zurück und wünschte, ich würde mich trauen, über seine Wange zu streichen. „Aber ... Wovon genau?"

Schlagartig wirkt sein Ausdruck leer. Doch diesmal habe ich keine Angst, dass er mich auf irgendeine Art und Weise abweisen wird, weil ich ihm mit meinen Fragen zu nahe trete, denn gerade sind wir uns näher, als je zuvor. Das scheint auch er zu wissen.

„Das waren die schlechte Tage", erzählt er gezügelt und emotionslos. Er sieht mir währenddessen nicht in die Augen.

Ich schürze traurig die Lippen. Ihn so zu sehen, bedrückt mich unheimlich. Zwar ist all das Vergangenheit, doch es wird ihn nie loslassen können und ihn bis an sein Lebensende verfolgen. Und das ist das Schlimmste. Er muss immer damit leben. Mit diesen Narben und diesen schwarzen Flügeln, die ihn als gefallenen Engel zeichnen.

„Denkst du manchmal noch daran?", frage ich ihn jetzt mutig. „An früher? ... An das, was alles passiert ist?"

Für einen kurzen Moment, sieht er noch nachdenklich an mir vorbei, dann sagt er: „Nein. Ganz ehrlich, nein. Wenn ich ständig an diese ganze Scheiße denken würde, hätte ich mir schon längst die Kugel gegeben."

Mir stockt der Atem. Er redet vom Selbstmord? Davon, dass er sich selbst die Kugel geben würde? Oh Gott. Oh Gott ... Ich fühle mich danach, zu weinen, doch ich tue es nicht. Harry meinte, ich soll nicht wegen Dingen weinen, die schon passiert sind und daran halte ich mich.

Als ich merke, wie sein Ausdruck immer mehr fällt, lege ich meine Hände wieder auf seinen Rücken und drücke mich an seinen warmen Körper. „Es tut mir leid", sage ich leise und lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab. „Aber ... Es ist vorbei. Jetzt bin ich hier, bei dir. Und alles wird besser werden, das verspreche ich dir."

Ich spüre, wie er seine Hand weiter höher auf meinen Rücken legt und mich fest an sich drückt. Er atmet durch, als bräuchte er diese Nähe. Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die nicht genug von ihm bekommen kann, egal wie nah wir uns sind.

Ohne es wirklich zu wollen, kichere ich. Er drückt mich so fest, mir bleibt fast die Luft weg. „Harry", sage ich amüsiert. „Du sagtest doch, ich soll atmen."

Er lässt mich etwas los, doch hält mich noch fest genug, damit meine Brust seine berührt. „Tut mir leid."

Spielerisch runzle ich die Stirn und sehe ihn an. „Seit wann entschuldigst du dich so oft? Was ist nur mit dir passiert?", wiederhole ich seine Frage von vorhin, als er mein Fluchen angesprochen hat.

Er lächelt schief und es erwärmt mir schlagartig das Herz. Ich liebe sein Lächeln, ich liebe es so sehr, weil es so einzigartig und selten ist.

„Du bist mit mir passiert."


„Honor!", ruft meine Mutter aufgeregt, während ich die Haustür hinter mir schließe. Sie kommt freudestrahlend mit einem Zettel in der Hand auf mich zu und überrumpelt mich mit einer festen Umarmung.

„Mama!", keuche ich und lege überrascht meine Hände auf ihren Rücken. „Was ist denn mit dir los? Hab ich meinen Geburtstag verpasst?"

Sie grinst mich an und lässt mich los. „Besser", sagt sie und hält den Zettel in die Höhe, als wäre sie ein glückliches Kind. „Rate, was das ist!"

Remember His StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt